Schätzungen und Ergebnis der Obdachlosenzählung in Berlin liegen weit auseinander – auch weil sich wohl viele obdachlose Menschen dieser Zählaktion („Nacht der Solidarität“) entzogen haben. Das sei ihr gutes Recht, erklärte die Sozialsenatorin. Dennoch: Valide Zahlen sind notwendig, um helfen zu können.
Einen Auftakt, nannte es die Armutsforscherin Susanne Gerull von der Berliner Alice Salomon Hochschule. Die Obdachlosenzählung in der Nacht vom 29. auf den 30. Januar – die erste dieser Art deutschlandweit – war über Monate akribisch vorbereitet worden: Rund 2700 Freiwillige, geschult und ausgestattet mit Fragebögen in mehreren Sprachen, zogen vier Stunden stadtweit durch die Quartiere. Angaben kamen auch aus Einrichtungen der Kältehilfe, aus Rettungsstellen, dem Polizeigewahrsam. Am Ende waren 1976 Obdachlose gezählt.
Schätzungen gehen von bis zu 10.000 Menschen aus, die auf den Straßen der Hauptstadt leben. Wer das Resultat der Zählung für enttäuschend hält, sollte sich die große Vorsicht und Rücksichtnahme vor Augen führen, mit der in dieser Zählaktion vorgegangen wurde: Wer sich nicht zählen lassen wolle, werde nicht erfasst, hatte Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Die Linke) auf einer Pressekonferenz versichert. „Die Menschen werden nicht aufgeweckt und nicht verfolgt. Sie haben ein Recht auf Anonymität und Privatheit.“ Und so war es auch Journalisten nicht erlaubt, die Zählteams berichtend – egal, ob mit Kamera oder Aufnahmegerät – zu begleiten.
Aus ihrer Sicht, so Susanne Gerull, sei die Obdachlosenzählung „nach allen Regeln sozialwissenschaftlicher Forschung erfolgreich durchgeführt worden.“ Dazu gehört auch die Auswertung von Antworten auf Fragen, etwa nach Alter, Herkunft und der Situation der Betroffenen auf der Straße. Ein erstes Ergebnis: 56 Prozent sind zwischen 30 und 49 Jahre alt, die Jüngsten zwischen 14 und 17 und die Ältesten über 65 Jahre. Die meisten der Gezählten sind Männer, 47 Prozent der Obdachlosen sind seit mehr als drei Jahren ohne festen Wohnsitz.
Gegen die Zählung hatten sich die Selbstvertretung wohnungsloser Menschen und das Wohnungslosenparlament in Gründung ausgesprochen. „Wir brauchen aber diese Zahlen, um besser helfen zu können“, konterte der Regierende Bürgermeister Michael Müller. Sozialsenatorin Elke Breitenbach ergänzte, dass 8,9 Millionen Euro zusätzlich für Modellprojekte bereitstünden. Dieses Geld solle sinnvoll eingesetzt werden.
Rosemarie Mieder
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29.02.2020