Wie wohnen Familien heute in Deutschland und in Berlin? Und wie kann verhindert werden, dass sich die Städte zunehmend zu „kinderfreien Zonen“ entwickeln?
Der gesellschaftliche Wertewandel, der in den späten 60er Jahren einsetzte, hat das Verständnis von Familie gehörig durcheinander gewirbelt. Die klassische Kernfamilie – Vater, Mutter, Kinder – ist längst nicht mehr der Normalfall. Viele Kinder wachsen heute bei Alleinerziehenden oder in sogenannten Patchwork-Familien auf. Weniger Eheschließungen, hohe Scheidungszahlen und dramatisch zurückgehende Geburtenraten kennzeichnen den demografischen Wandel. Dennoch ist die traditionelle Familienform statistisch gesehen nach wie vor die vorherrschende, so der „Familienreport 2009“ des Bundesfamilienministeriums. Knapp drei Viertel (74 Prozent) der in Deutschland lebenden Familien sind Ehepaare, nur bei acht Prozent handelt es sich um Lebensgemeinschaften. Alleinerziehende machen einen Anteil von 18 Prozent aus.
In den Großstädten sind die neuen Konstellationen allerdings weitaus stärker verbreitet. Mit rund einem Drittel der Haushalte hat Berlin den bundesweit höchsten Anteil Alleinerziehender. In der Hauptstadt sind 14,5 Prozent der Familien Lebensgemeinschaften und nur bei ungefähr der Hälfte der Familien sind die Eltern miteinander verheiratet.
Angesichts dieser Pluralität von Haushaltstypen ist eine Ausdifferenzierung des Wohnungsangebots erforderlich, heißt es in der Studie „Stadt als Wohnort für Familien“ des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR). Beispielsweise wandern viele Scheidungskinder zwischen den Haushalten und brauchen in beiden Wohnungen Kinderzimmer.
Auch die Mehrgenerationenfamilie, die bislang mit einem Prozent statistisch kaum eine Rolle spielte, erlebt derzeit ein Comeback.
Hinzu kommt, dass die moderne Pädagogik die Wohnbedürfnisse verändert hat. Das eigene Kinderzimmer wurde noch vor 30 oder 40 Jahren als nicht so wichtig erachtet. Für Migranten – fast die Hälfte der Berliner Kinder hat einen Migrationshintergrund – ist es noch heute keine Selbstverständlichkeit, wie Prof. Dr. Ali Ucar bei einer Untersuchung der Wohnbedingungen von Schulanfängern in Kreuzberg festgestellt hat. Nicht so sehr die Tatsache, dass sich gut 35 Prozent der türkischen Kinder ein Zimmer mit Geschwistern teilen, findet der Erziehungswissenschaftler bedenklich. 55,9 Prozent der Jungen und Mädchen haben überhaupt kein Kinderzimmer. „Eine vernünftige Entwicklung des Kindes kann wohl kaum gewährleistet sein, wenn die Kinder keinen Raum für sich selbst haben“, sagt Ucar.
Ein anderer Trend ist, zumindest im Bundesgebiet, keineswegs neu: dass immer mehr Familien der Stadt den Rücken kehren. In Berlin hat sich die Suburbanisierung nach dem Mauerfall in rasantem Tempo vollzogen – mit den altbekannten Negativfolgen wie Zersiedlung und neue Verkehrsströme. Die Hauptstadt gilt mittlerweile als Single-Hochburg, fast 80 Prozent sind Ein- und Zweipersonenhaushalte.
Dass immer weniger Kinder geboren werden und dass diese dann auch noch mit ihren Eltern abwandern, macht den Städten schwer zu schaffen. Dabei geht es nicht nur um den Verlust einkommensstarker Bürger, wie Dr. Armin Hentschel, Leiter des Instituts für Soziale Stadtentwicklung betont: „Kinder gehören zu einer lebendigen, gemischten Stadt einfach dazu, außerdem sollte die geschaffene Infrastruktur mit Schulen, Kitas und Spielplätzen auch genutzt werden.“
Drei Defizite
Doch bei vielen Familien steht das freistehende Reihenhaus im Grünen hoch im Kurs, wie Befragungen immer wieder belegen. Tatsächlich bewohnen nur 46,8 Prozent der Familien in Deutschland Ein- und Zweifamilienhäuser, in den Großstädten sind es lediglich 20,3 Prozent. Durch Abriss im Bestand mehr Platz für Reihenhäuser zu schaffen, wie in der BBSR-Studie vorgeschlagen, dürfte wohl kaum ein gangbarer Weg sein, zumal selbst die Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung erkannt hat: Nicht jede Familie kann oder will Eigentum bilden. Zweifellos kann die Stadt zudem mit Qualitäten punkten, die für Familien ebenfalls wichtig sind: kurze Wege und eine bessere Infrastruktur, insbesondere ein breites Angebot an Kitas und Schulen mit unterschiedlichen Konzepten.
Ungeachtet des jeweiligen Lebensstils und des Geldbeutels seien allerdings drei Dinge für Familien entscheidend, meint Dr. Hentschel: große, bezahlbare Wohnungen, weniger Autos und mehr Freiflächen im Wohnumfeld. In dieser Richtung sei in Berlin in den letzten Jahren kaum etwas passiert.
Birgit Leiß
Trend ins Grüne – trotz Bindung an die Stadt
Zwischen 1994 und 2004 hat Berlin gut 197.000 Menschen an das Brandenburger Umland verloren, darunter sehr viele Haushalte mit kleinen Kindern. Eine Trendumkehr ist nicht in Sicht, wie das „Institut für Soziale Stadtentwicklung“ (IfSS) in einer Studie („Zurück in die Innenstadt?“) belegt. Zwar ist die Einwohnerzahl der Innenstadt innerhalb des S-Bahnrings seit dem Jahr 2000 um fast 39.000 gestiegen. Doch die Zuwächse sind vor allem auf Zuzüge junger Erwachsener ohne Kinder zurückzuführen. Selbst die bekannten Babyboomquartiere in Prenzlauer Berg und Friedrichshain weisen nach wie vor einen negativen Wanderungssaldo auf. Der Wegzug junger Familien mit Kindern unter sechs Jahren ins Umland übersteigt deutlich den Zuzug dieser Bevölkerungsgruppe. Das Erstaunliche: Viele wären eigentlich lieber in der Stadt geblieben, wie auch jüngst die Studie des Bundesbauministeriums „Stadt als Wohnort für Familien“ bestätigt. Gerade Familien haben eine hohe Bindung an den Stadtteil und sind auf ein soziales Netz angewiesen. Doch offenbar können sie sich ihre Wohnwünsche eher im Umland erfüllen.
bl
Die Studie „Zurück in die Innenstadt?“
kann man kostenlos downloaden unter
www.ifss-potsdam.de/index.php?sid=2&id=18
Suburbanisierung schafft Segregation
Es sind die deutschen Mittelschichtsfamilien, die der Stadt den Rücken kehren. Zurück bleiben vor allem die einkommensschwächeren deutschen Haushalte und ausländische Familien. Die Folge: In bestimmten Quartieren findet eine soziale Entmischung („Segregation“) statt, es drohen gesellschaftliche Monokulturen – ein Teufelskreis, denn in Schulen mit einem Ausländeranteil von 90 Prozent und mehr wollen bildungsbewusste Eltern ihre Kinder nicht schicken. Sie ziehen daher spätestens bei der Einschulung in besser gestellte Viertel oder gleich hinaus aus der Stadt. Suburbanisierung führt daher auch unweigerlich zur Segregation. Die bestehenden sozialen Ungleichheiten werden durch die räumliche Konzentration von sozial und ökonomisch Benachteiligten noch verstärkt, heißt es dazu beim Deutschen Institut für Urbanistik.
bl
MieterMagazin 1+2/10
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Der Familienreport 2009
kostenlos im Internet unter:
www.bmfsfj.de
03.06.2013