Immer mehr Menschen entscheiden sich, keine Kinder oder höchstens eins zu haben, gleichzeitig nimmt die Zahl der älteren Menschen zu. Kinder- und familienfreundliche Rahmenbedingungen und ein gutes Zusammenleben von Jung und Alt sollten für Städte deshalb zentrale Themen sein.
„Städte sind auf Nachwuchs angewiesen“, sagt Nora Schmidt vom Berliner Beirat für Familienfragen. „Andernfalls nimmt auch die Zahl der Erwerbsfähigen ab – die Städte werden ökonomisch an den Rand gedrängt, sie schrumpfen und können im Wettbewerb mit anderen Städten nicht mehr bestehen.“ Wichtig ist ein gutes Betreuungs-, Bildungs- und Freizeitangebot. Hinzu kommen verkehrssichere Wege zu Spielplatz und Schule, sichere Freiflächen, möglichst viele Familien mit Kindern im Wohnumfeld und eine auf Familien ausgerichtete Infrastruktur mit entsprechenden Geschäften, Cafés, Kinderärzten – das sind nach Meinung von Pädagogen, Wissenschaftlern, Stadtplanern und Eltern die Kernpunkte, die eine Stadt familienfreundlich machen.
Die Infrastruktur zieht nach
„Menschen ziehen in bestimmte Quartiere des Bezirks Prenzlauer Berg, eben weil sie Kinder haben“, sagt Harald Simons, Wissenschaftler beim Forschungsinstitut Empirica. Hier seien alle genannten Bedingungen erfüllt: angefangen von zahlreichen freien und staatlichen Kitas und Schulen bis hin zu vielen Spielplätzen, Kinder-Second-Hand- und Bio-Läden. Kinderwagen können unbeschadet im Hausflur stehen, Kinderlärm wird toleriert und die Familie von gegenüber passt gerne mal mit auf den eigenen Nachwuchs auf. „Wo viele Familien hinziehen, bildet sich in der Regel automatisch eine familienfreundliche Infrastruktur“, so Simons. Dieser Prozess sei seit ungefähr zehn Jahren in allen Großstädten zu beobachten. Gleichzeitig verlassen auffällig viele Migranten diese Familienviertel. Steigende Mieten sind meist eine Begleiterscheinung dieses Prozesses.
In Berlin hat sich besonders stark das Bötzowviertel an der Grenze zu Friedrichshain zu einem beliebten Familienviertel entwickelt, aber auch die nördliche Torstraße/Ackerstraße sowie der Helmholtz-, der Kollwitz- und der Senefelderplatz. Hier sind Anfang der 90er-Jahre, als noch nicht alles schick saniert war, viele Studenten hingezogen, haben dann Familien gegründet und Kinder bekommen und sind geblieben. „Derzeit scheint der Kreuzberger Graefekiez ein neues solches Familienviertel zu werden und ansatzweise auch der Bergmannstraßenkiez“, ist Simons‘ Einschätzung.
Ganz anders sieht die Situation zum Beispiel in Neukölln oder Spandau aus, wo ebenfalls viele, allerdings einkommensschwächere Migrantenfamilien wohnen und sich keine familienfreundliche Infrastruktur entwickelt hat. „Migranten haben meist mehr Kinder als Deutschstämmige und leben häufig in der Großfamilie zusammen“, sagt Nora Schmidt. Der Zusammenhalt innerhalb der Familie sei meist sehr viel größer als in deutschen Kleinfamilien, wo die Großeltern womöglich hunderte Kilometer entfernt wohnten und die deshalb sehr viel mehr auf Netzwerkstrukturen im Wohnumfeld angewiesen sind. „Zwar ist das Kitaangebot auch in Neukölln gut“, so Schmidt. Hier lebende gutsituierte Familien, egal ob deutsche oder ausländische, würden jedoch spätestens dann wegziehen, wenn die Kinder in die Schule kommen. Nora Schmidt: „Klassen mit Kindern aus 15 verschiedenen Nationen sind nun mal ein Problem.“
Familienfeindliche Tarife
In Anbetracht der Betreuungsangebote ab dem Kleinkindalter sei Berlin im Vergleich zu anderen Städten familienfreundlich, meint Schmidt. Allerdings müssten die Einrichtungen länger geöffnet haben und mehr auf die Arbeitszeiten der Eltern abgestimmt werden. „Mir bringt es nichts, dass die Kita schon um sieben Uhr morgens auf-, aber schon um 17 Uhr zumacht“, sagt Kerstin Steinchen, alleinerziehende Mutter einer knapp eineinhalbjährigen Tochter. In Berlin gibt es nur wenige Einrichtungen, die bis 21 Uhr geöffnet haben. „Wenig familienfreundlich ist zum Beispiel auch, dass man als Familie für einen Schwimmbadbesuch mittlerweile tief in die Tasche greifen muss und der Personennahverkehr für Schulkinder nicht wie in anderen Städten kostenlos ist“, moniert Kristina Vaillant, Mutter zweier Söhne.
Wohnortnahe Spielplätze sind für Familien ein ganz wichtiges Thema. Laut Berliner Bauordnung muss beim Neubau eines Gebäudes mit mehr als sechs Wohnungen auf dem Baugrundstück ein Spielplatz angelegt werden. „Doch dieser Zwang und die Ängste von Anwohnern vor lärmenden Kindern führen häufig zu einer lieblosen Gestaltung“, sagt der Berliner Landschaftsarchitekt Rüdiger Amend. „Gute Spielplätze bieten Abwechslung und werden speziell auf verschiedene Altersgruppen und Geschlechter hin ausgerichtet, sie haben Kletterwände, Seilparcours und Rückzugsräume.“ Wichtig seien auch ausreichend und nahe Sitzmöglichkeiten oder Picknickflächen für die Eltern. Selten gibt es jedoch ein überdachtes Areal oder Toiletten. Auch würden zerstörte Spielgeräte oder Mülleimer häufig nicht ersetzt. „Dafür gibt es dann plötzlich keine Mittel mehr“, ärgert sich Amend.
Interesse am Generationenwohnen wächst
Für Jugendliche sind Brachflächen interessant und sollten bewusst für sie freigelassen werden. Schulhöfe, die auch außerhalb der Schulzeiten zugänglich sind, bieten gute Aufenthaltsqualität. Die im Juli 2009 fertig gestellte Freifläche auf dem Hof der Dathe-Oberschule in Friedrichshain ist ein gutes Beispiel: Auf Wunsch der Schüler gibt es hier nun ein Beachvolleyballfeld, ein Pavillondach in Form eines Sonnensegels mit „Lümmelmöbeln“ sowie eine Liegewiese und ein Holzdeck als „Chill out“-Bereich.
Doch Familien-Dasein meint heute viel mehr als das Zusammenleben mit Kindern. Gemeinschaftliche Wohnprojekte – zur Miete, als Eigentümer oder Baugruppe – liegen im Trend. Die seit gut zwei Jahren existierende Netzwerkagentur Generationenwohnen verzeichnet in Berlin momentan neben rund 80 interessierten Bau- und Hausgruppen etwa 600 Einzelinteressenten.
Kristina Simons
Wo ist es am kinderfreundlichsten?
Von 81 deutschen Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern gilt Berlin als kinderfreundlichste Stadt. Das ergab eine Umfrage des Städteportals „meinestadt.de“ unter 2500 Teilnehmern im Jahr 2009. Wichtigste Kriterien: ein gutes Schulangebot und ausreichend Betreuungsangebote für Kleinkinder, gefolgt von genügend Spielplätzen und freien Spielflächen. Auf Platz 2 landete Hamburg, auf Platz 3 Köln.
Auf europäischer Ebene haben die Robert-Bosch-Stiftung und die Stadt Stuttgart im Jahr 2007 das Städtenetzwerk „Cities for Children“ gegründet. Seit 2009 werden Großstädte mit herausragenden kinder- und jugendfreundlichen Projekten besonders ausgezeichnet. Mit dabei waren im letzten Jahr auch deutsche Städte: Darmstadt, weil es das Viertel Kranichstein komplett nach den Wünschen von Kindern und Jugendlichen gestaltet und mehr Platz für Bewegung und soziale Treffpunkte geschaffen hat. München wurde für sein spielerisches Konzept zur alle Altersgruppen einbeziehenden Verkehrserziehung ausgezeichnet. Karlsruhe erhielt eine Anerkennungsurkunde für das Projekt, Straßen durch vorübergehende Sperrung zu Spielstraßen für Kinder zu machen. Die schwedische Stadt Malmö wurde ausgezeichnet, weil sie Bauland zur Verfügung gestellt und dort für Jugendliche einen Ort für Extremsportarten eingerichtet hat. Auch Liverpool wurde für ein Verkehrserziehungsprojekt geehrt.
ks
Familiäre Nachbarschaft vorbildlich gefördert
Seit 2006 lobt die Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und der Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU) den Wettbewerb „Familien-Freunde“ aus. 2009 gehörte unter anderem die „Fortuna Wohnungsunternehmen eG“ mit ihrem nachbarschaftlichen Engagement „Hilfe im Alltag“ in Berlin-Marzahn zu den Gewinnern. Seit Oktober 2008 bieten rund 20 Bewohner ihren Nachbarn ehrenamtliche Unterstützung an: Sie helfen im Haushalt, beim Einkauf und anderen Besorgungen, erledigen kleine handwerkliche Leistungen, helfen beim Ausfüllen von Anträgen, bei Behördengängen oder gehen einfach mal mit ihnen spazieren. Die „Fortuna“, die das Projekt koordiniert, will damit ein aktives generationenübergreifendes Wohnen fördern. Schon zuvor hatte die Wohnungsgenossenschaft gemeinsam mit der Marzahner Bezirksstadträtin für Jugend und Familie und weiteren Partnern das „KIEZnet“ ins Leben gerufen, ein Netzwerk mit vielfältigen sportlichen, kulturellen und hilfreichen Angeboten, Veranstaltungen, Informations- und Beratungsangeboten für alle Altersgruppen. Dazu gehören zum Beispiel ein Elterncafé, Themenfrühstücke für Eltern mit Kindern im Vorschulalter, ein Kaffeeklatsch und Sportangebote für Senioren, Spieletreffs, Kochkurse, Grillfeste und eben die „Hilfen im Alltag“.
ks
MieterMagazin 1+2/10
Lesen Sie auch zu diesem Thema:
Leitartikel dieses MM-Spezial:
Familien in die Stadt!
Der Familienbegriff im Wandel der Zeit:
Mehr Pluralität, neue Anforderungen
Die familienfreundliche Stadt:
Wohlfühl-Milieu für Groß und Klein
Die familiengerechte Wohnung:
Das Glück braucht passende Wände
Familientaugliches Wohnungsangebot:
Mittendrin ist knapp und teuer
Junge Bewohner brauchen Sport, Spiel und Abwechslung in Wohnortnähe –
Berlin hat hier Nachholbedarf
Foto: Christian Muhrbeck
Hilfreiche Kontaktstellen für Familien:
Berliner Beirat für Familienfragen unter
www.familienbeirat-berlin.de
Lokale Bündnisse für Familien:
www.lokales-buendnis-fuer-familie.de
Mit dem Familienatlas Berlin informiert das Berliner Bündnis für Familien über familienfreundliche Angebote und Dienstleistungen.
Mitbestimmung bei der Spielplatzplanung fordert Verantwortung und Akzeptanz schon bei den Kleinen
Foto: Christian Muhrbeck
Internetseite des europäischen Städtenetzwerks „Cities for Children“:
www.bosch-stiftung.de
(Gesellschaft / Familie und demographischer Wandel / „Cities for Children“)
Nachbarschaften kann man unter die Arme greifen
Foto: Paul Glaser
16.12.2023