Hans Heinrich Müller hat in Berlin Spuren hinterlassen: Als Chefarchitekt des Vattenfall-Vorläufers Bewag entwarf er Dutzende Stromversorgungsbauten. Viele dieser Industriedenkmäler wurden inzwischen umgenutzt. Der ehemalige elektrische Stützpunkt Zeppelin im Wedding ist heute ein Mehrfamilienhaus.
„Zelle 17-24“ steht auf der schweren Metalltür, darunter „Hochspannung Vorsicht! Lebensgefahr“. Was sich dahinter verbirgt, hat allerdings so gar nichts mit einer Zelle zu tun und auch nichts Gefährliches an sich: Wenige Schritte durch einen Flur, dann fällt der Blick in einen großen offenen Raum. Er vereint Wohnzimmer, Arbeitsbereich und Küche. Nur drei Pfeiler dienen als Stützen, tragende Wände gibt es keine. „Anfangs war der Raum noch größer“, erzählt Susanne Stock, die mit ihrer Familie in der zweiten Etage des Atelierhauses Zeppelin in der Brüsseler Straße im Wedding wohnt. „Doch inzwischen haben wir drei Kinder – deshalb haben wir Wände eingezogen und Räume abgetrennt.“
1928 hatte Bewag-Chefarchitekt Hans Heinrich Müller den Sechs-Kilovolt-Stützpunkt Zeppelin entworfen. Das Innere des Fünfgeschossers war ursprünglich tatsächlich unterteilt in eine Vielzahl kleinteiliger Zellen neben einigen größeren Flächen. „Das Gebäude hatte eine rein technische Funktion“, sagt die Architektin Petra Kahlfeldt. Sie hat zusammen mit ihrem Mann Paul Kahlfeldt nicht nur den Stützpunkt, sondern eine ganze Reihe der von Müller entworfenen Stromversorgungswerke in Berlin umgebaut: zu Wohnhäusern, Büros und einem Museum.
Architekt mit klarer Handschrift
Müller plante in Berlin zwischen 1924 und 1930 weit über 40 Stützpunkte, Umspann- und Gleichrichterwerke sowie zehn Abspannwerke. Man erkennt seine Handschrift überall in der Stadt wieder: an der Ohlauer Brücke in Kreuzberg, in der Leibnizstraße in Charlottenburg oder der Kopenhagener Straße in Prenzlauer Berg. Industriebauten wurden damals nicht mehr versteckt in Hinterhöfen oder abgelegenen Gebieten, sondern selbstbewusst mitten in Wohnquartiere gesetzt. Dass sie bei Müller nicht wie Fremdkörper wirkten, liegt auch an den roten Ziegelfassaden, mit denen er die Stahlskelette ummantelte. Gleichzeitig übersetzte er den Stil der märkischen Backsteingotik in eine moderne Sprache.
In Abspannwerken wurde der Strom, der mit 30 Kilovolt aus den Kraftwerken am Stadtrand kam, auf sechs Kilovolt transformiert („abgespannt“). Elektrische Stützpunkte wie der in der Brüsseler Straße dienten dazu, diesen abgespannten Strom weiter an die Netzstationen und Transformatorsäulen zu verteilen. Der Stützpunkt Zeppelin versorgte einst die Gebäude in der Umgebung und das nahe Rudolf-Virchow-Krankenhaus mit Strom. In den 1980er Jahren verlor er seine technischen Aufgaben. 1983 wurde der Stützpunkt Zeppelin abgeschaltet und stand danach leer.
Der denkmalgeschützte Stützpunkt eignete sich ideal für den Umbau zum Mehrfamilienhaus: Die fünf Geschosse haben Grundflächen von 110 bis 140 Quadratmetern, drei Meter hohe Decken und keine störenden tragenden Wände. Ursprünglich führten hier geschossweise brückenartige Gänge zu kleinteiligen Zellen und Schalteinheiten, die sich vertikal die Wände hochzogen. Die Zellen hingen in einer Ummantelung aus Maschendraht. Nach ihrem Ausbau boten die Etagen eine Großzügigkeit, die viel Raum für individuelle Grundrisse und Lebensmodelle bot.
„Wir haben bewusst nur den Grundausbau vorgenommen“, sagt Petra Kahlfeldt. „So konnten die Bewohner ihre Wohnungen individuell nach ihren Bedürfnissen aufteilen.“
Anstatt eines Investors hatten sich fünf Parteien zusammengetan und jeweils eine Etage gekauft. Einige haben ihre Wohnung vermietet, andere leben selbst darin. Die Kunststiftung Baden-Württemberg nutzt eine Etage als Wohn- und Atelierraum für ihre Stipendiaten. Susanne Stock und ihr Mann waren das erste Mal am „Tag des offenen Denkmals“ vor mehr als zehn Jahren in dem ehemaligen Stützpunkt. „Bei der Gelegenheit lernten wir Petra Kahlfeldt kennen, die uns von ihren Umnutzungsplänen erzählte“, erinnert sie sich.
Bei ihrem Nachbarn im Erdgeschoss besteht fast die gesamte Wohnung aus einem großen Raum. Nur Schlaf- und Badezimmer sind abgetrennt, außerdem, wie bei allen Bewohnern, der kleine Raum, in dem sich einst der Lastenaufzug befand. Die einen nutzen ihn heute als Wintergarten, die anderen als Gästezimmer. „Da es dort keine Heizung gibt, lagern wir darin im Winter unsere Kartoffeln“, sagt Stock lachend.
Umbau mit viel Umsicht
Auf der Rückseite des Hauses erstreckt sich ein etwa 500 Quadratmeter großer Garten. Die zurückversetzten außenliegenden Rettungswege, die auf der einen Seite in den Lastenaufzug, auf der anderen Seite ins Treppenhaus führten, dienen heute als Balkone. In die Wand zu den Balkonen und in die seitliche Brandwand wurden nachträglich Fenster eingebaut. Daneben sind die sakral anmutenden, typischen „Müller-Fenster“ erhalten geblieben: schmale, langgezogene Öffnungen, die sich an der Rückfront wie Orgelpfeifen die Fassade hochziehen. Zwischen den vertikalen Fensterbändern verläuft jeweils ein gleich breiter Streifen aus rotem Backstein. An der vorderen Fassade sind die Fenster in den einzelnen Etagen dagegen horizontal auf einer Ebene angeordnet. „Müller hat zwar durch Materialwahl und Fassadengliederung deutlich gemacht, dass es sich um einen Industriebau handelt, diesen aber durch die Vielzahl der Fenster und die Traufhöhe in die Blockrandbebauung integriert“, so Kahlfeldt. Doch hebt sich vor allem die Fassade von den Nachbargebäuden auch dadurch ab, dass sie von Geschoss zu Geschoss nach oben hin um einen halben Backstein zurückversetzt ist. Das Treppenhaus versprüht Industriecharme im besten Sinne. „Schon durch die geschmiedeten Geländer und Handläufe unterscheidet es sich von einem typischen Altbautreppenhaus“, sagt Stock. Ganz bewusst hat Architektin Kahlfeldt das Originalgeländer belassen und lediglich aus Sicherheitsgründen erhöht. „Uns lag viel daran, bei der Umnutzung nicht den Denkmalwert und das Erscheinungsbild zu verändern“, betont sie. „Wir wollten das Gebäude nicht totsanieren.“
Auch die ursprünglichen einfachverglasten Stahlfenster prägen noch heute das Gesicht des Hauses. „Damit keine Wärme verloren geht, haben wir innen eine zweite Schicht isolierverglaste Fenster davorgesetzt.“ Das ganze Gebäude wurde von innen gedämmt: So bekamen etwa die Innenseiten der Außenwände einen sechs Zentimeter dicken Wärmedämmputz. Ein zusätzlicher Fußboden in den Wohnungen sorgt nicht nur für mehr Wärme von unten. „Wir haben hier auch gleich eine Trittschalldämmung eingebaut.“
Die war beim Bau des Stützpunktes nicht nötig: Er wurde vollautomatisch betrieben, nicht ein einziger Mensch arbeitete hier.
Von der früheren Nutzung zeugen übrigens heute auch noch die alten Leuchtbuchstaben der Bewag, von denen jeder der fünf Bewohner einen bekommen hat – Susanne Stock das „W“.
Kristina Simons
Berlin unter Strom
Mit der Gründung Groß-Berlins im Jahr 1920 kam die Energieversorgung an ihre Grenzen. Nicht nur Industrie, U- und Straßenbahnen benötigten jede Menge Strom. Zu den bis dahin schon 1,9 Millionen Berlinern war noch mal die gleiche Einwohnerzahl hinzugekommen. Die „Berliner Städtische Elektrizitätswerke Aktiengesellschaft“ (Bewag), 1923 aus den „Städtischen Elektrizitätswerke Berlin“ (StEW) hervorgegangen, setzten gemeinsam mit der AEG und den Siemens-Schuckert-Werken das neue Energiekonzept für Groß-Berlin um. AEG und Siemens bauten die Kraftwerke und das Baubüro der Bewag plante die Bauwerke für die Energieverteilung. Leiter des Baubüros wurde 1924 der Architekt Hans Heinrich Müller. 1925 waren 25 Prozent, 1927 bereits 50 Prozent und 1932 rund 75 Prozent der Haushalte ans öffentliche Stromnetz angeschlossen. Berlins Stromerzeugungs- und -verteilungskonzept gehörte damals zum modernsten der Welt.
ks
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alle Fotos: Sabine Münch
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