Die Kreuzberger Otto-Suhr-Siedlung ist eine jener schmucklosen Sozialbausiedlungen, in die lange Zeit kaum jemand ziehen wollte. Doch in einem der laut Berlins Sozialstrukturatlas ärmsten Kieze stehen die Zeichen mittlerweile auf Verdrängung und Aufwertung. Was für viele Bewohner seit Jahrzehnten ihr Zuhause ist, dient ihrem Vermieter als „reine Geldmaschine“, wie einige Mieter sagen.
„Ich bin nicht gewillt, 50 oder 60 Prozent meiner Rente für die Miete aufzubringen“, sagt Michael Klage. Seit 47 Jahren wohnt er in der Stallschreiberstraße – und gehört damit nicht einmal zu den am längsten dort wohnenden Mietern. Über ihm lebt eine 80-Jährige, die hier seit 59 Jahren zu Hause ist. „Natürlich schauen wir nach ihr, und mein Mann hilft ihr, wenn mal etwas zu reparieren ist“, sagt Ingrid Klage. Es ist auch dieser soziale Zusammenhalt, der auf dem Spiel steht. Denn die Deutsche Wohnen, der ein Großteil der Siedlung gehört, will die Mieten durch eine umstrittene energetische Sanierung erhöhen. Bei den Häusern mit Laubengängen soll es um bis zu 40 Prozent teurer werden. 478 Euro warm kostet die 65 Quadratmeter große Wohnung der Klages derzeit. Nach der energetischen Sanierung sollen es 612 Euro sein.
Es gibt krassere Modernisierungsfälle. Doch wohnen in dem ehemaligen Sozialen Wohnungsbau fast ausschließlich „kleine Leute“, denen solche Mieterhöhungen richtig weh tun. Es sind Alleinerziehende, Migranten, Studenten und vor allem Rentner, die in ihrem Erwerbsleben nur ein geringes Einkommen hatten und nun eine entsprechend kleine Rente beziehen.
Etliche Mieter sind bereits ausgezogen. Und die Verbliebenen kritisieren auch die Modernisierungsmaßnahmen an sich. „Ich sehe überhaupt keinen Nutzen“, ärgert sich Michael Klage, der früher als Hausmeister gearbeitet hat. Seine Doppelkastenfenster sind top in Ordnung, regelmäßig hat er sie gestrichen, auch von außen. Selbst Fenster, die erst zwei Jahre alt sind, sollen herausgerissen werden. Neben dem Einbau neuer Fenster ist die Dämmung von Keller- und oberster Geschossdecke geplant. 45 Euro Heizkosten zahlt das Ehepaar Klage derzeit. „Selbst wenn wir in Zukunft überhaupt keine Heizkosten mehr zahlen müssten, wird die Modernisierungsumlage höher sein.“
Bezirksamt unterstützt die Mieter
Das sehen auch viele seiner Nachbarn so. Mittlerweile haben sich die Mieter zu einem Bündnis zusammengeschlossen. „Das Bezirksamt steht hinter uns“, erklärt Michael Klage. Für den zweiten Bauabschnitt, zu der auch die Wohnung der Klages gehört, wurde die geplante Wärmedämmung vorläufig nicht genehmigt. Möglich wurde das, weil das Bezirksamt im September 2016 einen Aufstellungsbeschluss für ein Milieuschutzgebiet gefasst hat. Der Eigentümer, so der Friedrichshain-Kreuzberger Baustadtrat Florian Schmidt (Bündnis 90/Die Grünen), konnte die Erforderlichkeit der Fassadendämmung nicht nachweisen. Somit dürfte sich die angekündigte Mieterhöhung halbieren. Für den ersten Bauabschnitt kommt das zu spät, hier wurde die Fassade bereits gedämmt.
Die Wohnungsbaugesellschaft Mitte (WBM), der nach wie vor ein Teil der Häuser gehört, kann es übrigens billiger. Für die gleichen Maßnahmen werden hier für eine rund 60 Quadratmeter große Wohnung lediglich 80 Euro Mieterhöhung fällig. Die Deutsche Wohnen verlangt 143 Euro mehr. In ihrem Geschäftsbericht erklärt die Deutsche Wohnen ganz offen, welches Mieterhöhungspotenzial man gerade in der Otto-Suhr-Siedlung sieht. Einst absolute Randlage, befindet man sich hier nun im Herzen der City, nur einen Steinwurf vom Potsdamer Platz entfernt. Von ihrem Küchenfenster aus blickten die Klages früher direkt auf die Mauer und den Grenzturm. Jetzt entsteht auf dem ehemaligen Mauerstreifen ein exklusives Neubauprojekt mit Eigentumswohnungen, das Quartier Luisenpark. „Wir haben von morgens bis abends Lärm, jetzt auch noch durch diesen Neubau“, sagt Michael Klage. „Die Wut bei allen ist groß.“
Birgit Leiß
Zum Osten hin gebaut
Die ehemalige Luisenstadt rund um die Oranien-, Alexandrinen- und Ritterstraße, wurde im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört. Als eines der ersten großen Wiederaufbauprojekte West-Berlins entstand hier von 1956 bis 1961 die Otto-Suhr-Siedlung. Direkt an der Grenze gelegen, wollte der Senat ganz bewusst zu den Menschen in Ost-Berlin hin bauen. Insgesamt rund 2300 Wohnungen wurden mit Fördermitteln des Sozialen Wohnungsbaus errichtet – überwiegend sechs- bis achtgeschossige Häuserzeilen mit viel Grün dazwischen, außerdem ein 15-geschossiges Punkthochhaus in der Alexandrinenstraße 100. Benannt ist die Siedlung nach dem SPD-Politiker Otto Suhr (1894 bis 1957). Bis zur Privatisierung im Jahre 2004 war sie im städtischen Besitz und wurde von der Bewoge (WBM-Gruppe) bewirtschaftet. Dann wurden 1350 Wohnungen an die Fondsgesellschaft Apellas veräußert. Diese verkaufte im Jahre 2007 an die Gagfah Pegasus GmbH weiter. Ab 2011 war die GSW Eigentümerin, welche schließlich von der Deutsche Wohnen aufgekauft wurde.
bl
03.03.2018