Leitsatz:
Zur Frage, wann einem Mieter Schmerzensgeld wegen Asbestbelastung seiner Atelierwohnung zusteht.
LG Dresden vom 25.2.2011 – 4 S 73/10 –
Anmerkungen des Berliner Mietervereins
Die Parteien stritten unter anderem um die Schmerzensgeldverpflichtung des Vermieters wegen der Asbestbelastung der vom Mieter von 1990 bis Februar 2005 innegehaltenen Atelierwohnung in Dresden. Nach dem vom Mieter in Auftrag gegebenen Privatgutachten vom 24.6.2004 lag eine erhebliche Asbestbelastung infolge der dort vor der Wende verbauten Asbestplatten („Baufathermplatten“) vor. Das Landgericht sprach dem Mieter 20.000 Euro für seine „Siechtumsangst“ zu.
Ein Mieter, der angesichts einer über viele Jahre währenden Schadstoffexposition in seinem Wohnungs- und Arbeitsumfeld (hier: Asbestbelastung der „Sanierungsdringlichkeitsstufe I“) heute mit der Gewissheit leben müsse, dass bei ihm ein deutlich erhöhtes Risiko bestehe, an Lungenkrebs oder anderen Krankheitsbildern der Lunge verfrüht zu versterben, könne wegen seiner psychischen Beeinträchtigung vom Vermieter jedenfalls dann Schmerzensgeld verlangen, wenn diesem infolge eines früheren Verdachtshinweises seitens des Mieters beziehungsweise infolge der besonderen Asbestproblematik in den neuen Bundesländern vor „der Wende“, als flächendeckend schwach gebundene Asbestprodukte verwendet worden sind, das Erkrankungsrisiko bekannt sein musste.
Urteilstext
Zum Sachverhalt:
Die Parteien streiten unter anderem um die Schmerzensgeldverpflichtung der Bekl. wegen der Asbestbelastung der vom Kl. von 1990 bis Februar 2005 innegehaltenen Atelierwohnung in Dresden. Nach dem vom Kl. in Auftrag gegebenen Privatgutachten vom 24. 6. 2004 lag eine erhebliche Asbestbelastung infolge der dort vor der Wende“ verbauten Asbestplatten („Baufathermplatten“) vor.
Das AG hat die Bekl. unter anderem zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 12.000 Euro verurteilt sowie eine Einstandspflicht der Bekl. von 60% für jeden weiteren eintretenden Schaden festgestellt. In der von beiden Parteien geführten Berufung hat die Kammer die Höhe des Schmerzensgeldes auf 20.000 Euro abgeändert und ausgesprochen, dass „die Bekl. verpflichtet ist, dem Kl. jeden künftigen Schaden aus der Belastung seiner Gesundheit durch Asbest der Wohnung zu ersetzen“.
Aus den Gründen:
II. 1. b) bb) (1) Die Kammer hält die Argumentation der Berufung der Bekl. für unzutreffend, wonach deshalb kein Mangel vorliegen soll, weil im Zeitpunkt der Renovierung der Wohnung asbesthaltige Baustoffe allgemein üblich gewesen seien und kein Bewusstsein für deren Gefährlichkeit bestanden habe. Bei gesundheitsgefährdenden Schadstoffbelastungen ist für die Frage der Unbedenklichkeit und der Anwendbarkeit etwaiger Grenzwerte nicht der Zeitpunkt des Mietvertragsabschlusses oder der Renovierung maßgeblich. Dies entspricht der obergerichtlichen Rechtsprechung (OLG Hamm, NZM 2003, 395; BayOBLGZ 1999, 220 = NJW-RR 1999, 1533 = NZM 1999, 899) und steht auch mit der Kommentierung im Einklang (Eisenschmid, in: Schmidt-Futterer, MietR, 10. Aufl., § 536 Rdnrn. 23 ff.; Sternel, MietR, 4. Aufl., Rdnr. VIII 105; Blank/Börstinghaus, Miete, 3. Aufl., § 535 Rdnr. 335). Diese Auffassung ist indirekt auch vom BVerfG gebilligt worden (NJW-RR 1999, 519 = NZM 1999, 302).
(2) Auch die Annahme, wonach rückwirkend verlässliche Feststellungen zur Asbestbelastung nicht getroffen werden könnten, erweist sich als unzutreffend. Zwar kann es für die Vergangenheit – in der Natur der Sache liegend – keine Messergebnisse für Raumluftkonzentrationen ab 1990 geben. Nach der Begutachtung lassen sich gleichwohl ausreichend sichere Aussagen jedenfalls für den Zeitraum ab einschließlich 2001 treffen. Entgegen der Auffassung der Bekl. handelt es sich bei der Feststellung des Gerichtssachverständigen, wonach die Atelierwohnung in der höchsten Kategorie asbestbelastet ist („Sanierungsdringlichkeitsstufe I“), nicht lediglich um eine Momentaufnahme zum Zeitpunkt des Ortstermins. Dies würde allenfalls für bestimmte Messdaten gelten. Die Asbestbelastung resultiert nämlich aus den verbauten Baufathermplatten, die nach den Darlegungen des Sachverständigen ein „schwach gebundenes Asbestprodukt“ darstellen. Bei diesen werden durch den natürlichen Vorgang der Faserspaltung und bei bestimmungsgemäßer Beanspruchung des Baustoffs (Vibration durch Trittschall und dergleichen) feinste atembare Fasern freigesetzt. Aus der Natur dieses Baustoffs folgt mithin eine kontinuierliche Faserfreisetzung, die mit zunehmendem Alter und Beanspruchung der Baufathermplatten noch zunimmt. Weit zehn Jahre nach Einbau ist damit eine Asbestbelastung zwangsläufig.
Diese Schlussfolgerungen, die auf der Grundlage einer Bewertung der Baustoffe und der ermittelten Messergebnisse getroffen wurden, fanden sich nach dem Gutachten zusätzlich durch optische Wahrnehmungen bestätigt. So wurden in den Deckenhohlräumen asbesthaltige Liegestäube (Ablagerungen freigesetzter Asbestfasern bzw. Asbeststaub) sowie Bruchstücke und Splitter der Baufathermplatten (vermutlich aus der Bauzeit) festgestellt.
Der nachträglichen – tatsächlich auch nicht seriös durchführbaren – Schätzung der Schadstoffkonzentrationen in der Vergangenheit bedurfte es nicht. Die Berufung der Bekl. verkennt, dass es nach den Darlegungen des Sachverständigen keinen Schwellenwert im Sinne einer unbedenklichen Asbestkontamination der Raumluft gibt. Damit kommt es auf die genaue Höhe der Schadstoffbelastung gar nicht an, solange die Schadstoffbelastung als solche für den maßgeblichen Zeitraum feststeht.
cc) Diese stellt einen Mietmangel dar. Nach Auffassung der Kammer muss daher nach den Feststellungen des Sachverständigen jedenfalls für den vorliegend maßgeblichen Zeitraum ab 2001 von einer vollständigen Aufhebung der Gebrauchstauglichkeit ausgegangen werden. Die Bekl. verkennt, dass es bei einer Asbestfaserfreisetzung in Wohnräumen mangels Schwellenwerts keine zeitliche Unterteilung in einen unbedenklichen, einen mäßig bedenklichen und einen nicht mehr hinnehmbaren Zustand gegeben kann. Nach den Feststellungen des Sachverständigen und seiner Beschreibung der auch sichtbaren Wahrnehmung von Asbeststaub geht die Kammer ab 2001 von der vollständigen Aufhebung der Gebrauchstauglichkeit der Atelierwohnung als Wohnstätte und Arbeitsplatz aus. Das Einatmen der Asbestfasern ist mit einem erhöhten Risiko assoziiert, an Bronchialkarzinomen, Mesotheliomen oder sonstigen Lungenleiden zu erkranken. Dabei variiert zwar die Latenzzeit. Das Risiko des manifesten Ausbruchs einer tödlich verlaufenden Erkrankung steigt jedoch mit der Dauer der Schadstoffexposition und der Schadstoffkonzentration.
Angesichts dessen war die Atelierwohnung als privater und beruflicher Lebensmittelpunkt nicht geeignet, den vertraglich vorausgesetzten Zweck zu erfüllen.
3. Weiterhin steht dem Kl. ein angemessenes Schmerzensgeld zu, weil er von der Bekl. rechtswidrig und schuldhaft in seiner Gesundheit verletzt wurde, § 823 Absatz I BGB.
a) Der Tatbestand von § 823 Absatz I BGB ist erfüllt.
aa) Eine Verletzung der Gesundheit ist eine medizinisch erhebliche Störung der körperlichen, geistigen oder seelischen Lebensvorgänge. Unerheblich ist, ob bereits eine tiefgreifende Veränderung der Befindlichkeit eingetreten ist. Die Kammer geht von einer massiven psychischen Belastung des Kl., nicht jedoch von einem physischen Krankheitsbild aus.
(1) Die Asbestexposition begründet eine Risikoerhöhung asbestbedingter Krankheitsbilder, stellt jedoch selbst noch kein physisches Krankheitsbild dar. Zwar ist anerkannt, dass bereits die Übertragung des Human-Immundefizienz-Virus (HIV) eine Gesundheitsverletzung darstellt, ohne dass es bereits zum Ausbruch der Immunschwächekrankheit gekommen sein muss (BGHZ 114, 284 = NJW 1991, 1937; BGHZ 163, 209 = NJW 2005, 2614). Allerdings ist dort die Ursache des späteren Ausbruchs der Krankheit medizinisch gesichert, wohingegen sie vorliegend letztlich spekulativ bleibt (hierzu LAG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 10. 7. 2009 – 9 Sa 348/08, BeckRS 2011, 66594). Ob die Asbestfasern eine Schadensursache gelegt haben, ist offen. Daher sieht die Kammer keine Veranlassung, die Rechtsprechung zu den HIV-Fällen auf die vorliegende Konstellation zu übertragen.
(2) Allerdings geht die Kammer von einer psychischen Beeinträchtigung des Kl. aus. Das Einatmen der Asbestfasern ist mit einem erhöhten Risiko verbunden, an Lungenkrebs oder anderen Krankheitsbildern der Lunge zu versterben. Der Kl. muss mit der Gewissheit leben, dass bei ihm mit Blick auf die Dauer der Schadstoffexposition in seinem Wohnungs- und Arbeitsumfeld ein deutlich erhöhtes Risiko dieser Erkrankungen besteht. Die Kammer sah hierbei keinen Anlass für eine medizinische Etikettierung der verschiedenen Ausprägungen der geschilderten Stimmungslagen und wechselnden Umschreibungen des Kl. (Todesangst, depressive Stimmungslage, Lethargie, Verlust an Lebensfreude, kreative Blockaden). Maßgeblich ist für die Kammer das – über das Wissen um die eigene Endlichkeit hinausgehende – ständige Bewusstsein der Möglichkeit, fremdverursacht zu einem ungewissen Zeitpunkt bösartig zu erkranken und deshalb verfrüht zu sterben.
bb) Die Rechtswidrigkeit wird durch die Erfüllung des Tatbestands indiziert. Die Bekl. hat auch schuldhaft gehandelt. Ihr liegt ein grob fahrlässiges Organisationsverschulden zur Last, weil sie zu einer umfassenden Untersuchung der Baumaterialien und davon ausgehender Gefahren verpflichtet gewesen wäre. Die Bekl. war nicht nur Adressat des Schreibens des Kl. vom 29. 8. 1991, in dem er erstmals den Verdacht einer Schadstoffbelastung äußerte und auf asbesthaltige Baustoffe verwies. Sie fungierte nach den Feststellungen des AG 1991 sogar offiziell als Hausverwalterin der damals noch im Eigentum der X stehenden Wohnung. Es entlastet die Bekl. damit nicht, dass sie bzw. ihre Mitarbeiter anlässlich des Eigentumswechsels im Jahr 1997 den Inhalt der Mieterakte und damit das Schreiben des Kl. vom 29. 8. 1991 ignoriert hatten.
Eine Untersuchung der vor „der Wende“ renovierten Altbaussubstanz hätte aber auch deshalb stattfinden müssen, weil die besondere Asbestproblematik in den Neuen Bundesländern bekannt war. Nach den Ausführungen des Sachverständigen wurden dort in großem Umfang bis zur „Wende“ schwach gebundene Asbestprodukte wie Spritzasbest und nicht oberflächenbehandelte Asbestplatten verwendet.
b) Der erhobene Einwand eines Mitverschuldens § 254 BGB) des Bekl. – mit dem sinngemäß ein Bemessungsfaktor („Null“) eines Schmerzensgelds dargelegt wird – ist unbegründet. Die Argumentation der Bekl. verkennt das mietvertragliche Pflichtengefüge. Die Bekl. schuldet die Gewährung des Gebrauchs einer mangelfreien Wohnung. Mit Schreiben vom 29. 8. 1991 hat der Kl. einen Verdacht geäußert. Zu Nachforschungen war daraufhin allein der Vermieter verpflichtet. Die Kenntnis des Kl. kann frühestens ab Erstellung des Gutachtens des Y-Instituts angenommen werden. Dass er daraufhin nicht sofort ausgezogen ist, kann allenfalls dem Verhalten der Bekl. angelastet werden.
c) Der zeitanteiligen Betrachtungsweise des AG, mit der der Haftungsumfang der Bekl. beschränkt wird, kann die Kammer nicht folgen. Derzeit geht es um das physische Erkrankungsrisiko und die damit einhergehende psychische Belastung. Letztere ist von einer ohnehin nur abstrakt bestimmbaren Risikoerhöhung unabhängig, weil das Erkrankungsrisiko bereits bei einer Schadstoffexposition von nur wenigen Jahren besteht. Für die psychische Belastung kommt es daher nicht darauf an, ob der Kl. seit sieben oder 14 Jahren der Asbestbelastung ausgesetzt war. Es spielt daher keine Rolle, dass die Bekl. formal erst seit 1997 in den Mietvertrag eingetreten ist.
Davon unabhängig gibt es keinen ungefährlichen Schwellenwert. Eine zeitliche Unterteilung in bedenkliche und unbedenkliche Wohnzeiträume ist nicht möglich. Damit scheidet mangels Abgrenzbarkeit eine zeitraumbezogene (Ursachen-)Zuordnung und damit auch eine Haftungsbegrenzung anhand der abstrakt denkbaren (zeitraumabhängigen) Erhöhung des Risikos einer physischen Erkrankung aus. In der Dauer der von den Vermietern jeweils zu „verantwortenden“ Zeiträume kann mithin kein haftungslimitierender Umstand gesehen werden. Sie würden als Gesamtschuldner jeweils in vollem Umfang haften.
d) Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes hat die Kammer mithin die grob fahrlässige Untätigkeit der Bekl. und die psychische Beeinträchtigung berücksichtigt, unter denen der Bekl. nunmehr schon seit über sechs Jahren leidet. Zu befürchtende Krankheiten der Zukunft sind vom Feststellungsantrag umfasst und waren daher bei der Bemessung des Schmerzensgeldes nicht zu berücksichtigen.
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07.04.2016