Praktisch und leicht verlegbar – vor allem aber unschlagbar preiswert: Floor-Flex-Platten waren in den 1960er und 70er Jahren vor allem im West-Berliner Sozialen Wohnungsbau der Baustoff der Wahl. Heute sind sie nach jahrzehntelanger Nutzung an vielen Stellen bröckelig. Und es stellt sich heraus, dass sie auch eine teuflische Tücke haben. Dort, wo sie zerbröseln, können Asbestfasern austreten – ein Schadstoff, dessen Gefährlichkeit schon Mitte des vorigen Jahrhunderts bekannt war und der seit 20 Jahren in Deutschland auf dem Index steht. Abriss, Rückbau, Entfernung sind angesagt. Aber all das stellt sich als schwierig und vor allem teuer heraus. Noch etwa 48.000 Wohnungen in West-Berlin sind mit den Platten belastet – allein in den kommunalen Beständen. Dort ist man inzwischen dabei, sich der Herausforderung zu stellen. Aber private Vermieter, von denen kaum Zahlen über Asbest-Belastungen zu bekommen sind, mauern. Die Politik stört sich daran nicht.
Eine kleine Meldung war es, die Dieter Pietsch vor drei Jahren aufhorchen ließ: „Vorsicht bei Floor-Flex-Platten!“ Sie stand im Informationsblatt seines Vermieters und machte auf den Bodenbelag aufmerksam, der in dem Hochhaus nahe dem Breitenbachplatz in allen Wohnungen verlegt worden war. Dunkle glatte Kunststoff-Fliesen, praktisch in der Benutzung, gut zu reinigen und einfach mit Teppichboden zu belegen. Seien die Platten intakt, hieß es im Mieterblatt, bestehe keinerlei Gefahr. „Sind die Platten beschädigt und lose, ist jedoch Vorsicht geboten.“ Der Vermieter sei in dem Fall zu informieren. Keinesfalls sollte der Bodenbelag bearbeitet oder entfernt werden.
„Ich bin hier vor 20 Jahren eingezogen“, erinnert sich Dieter Pietsch, „da war schon ein Teil der Platten kaputt. Die konnte man einfach aufheben.“ Das hat er in einem Raum auch getan und dort den Fußboden selbständig erneuert. Was war das für ein Zeug, was er da herausgerissen, zusammengekehrt, abgesaugt und schließlich im Müll entsorgt hatte?
„Diese Fliesen enthalten einen Anteil Asbest“, erklärt Harald Henzel vom Landesamt für Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz und technische Sicherheit (LAGetSi) – ein Material, das erst einmal unschlagbar billig war. „Vor allem aber galt Asbest als Baustoff der tausend Möglichkeiten“, ergänzt der Ingenieur. Eine wahre „Wunderfaser“, die nicht nur große Festigkeit besitzt, außerordentlich hitzebeständig, relativ säurefest ist, kaum verrottet, gut dämmt und sich dazu noch auf vielfältige Art verarbeiten lässt. Es kann zermahlen und beispielsweise unter Zement gemischt werden, dem es dann mehr Volumen, aber kaum mehr Gewicht gibt. Die feinen Fasern können zu Garnen versponnen und zu feuerfestem haltbarem Gewebe verarbeitet werden. „Das Zeug wäre ideal“, stellt der Ingenieur fest, „wenn es nur nicht so teuflisch gefährlich wäre.“
Bereits zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts registrierte man zunehmend Erkrankungen jener Arbeiter, die das mineralische Silikat Asbest unter oder auch über Tage abbauten. Sie standen in den Brüchen stundenlang im Staub, den sie ungefiltert einatmeten. Asbestose, eine schwere Erkrankung der Lunge, wurde um 1900 entdeckt und Lungenkrebs als eine Folge von Asbestbelastung 1943 als Berufskrankheit anerkannt.
Da hatte die Faser ihren eigentlichen Triumphzug aber gerade erst angetreten. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte man Asbest immer öfter und in vielfältigster Form ein. Der Stoff fand Verwendung im Schiffsbau, in der Bauwirtschaft, der verarbeitenden Industrie, aber auch für feuerfeste Gewebe und Materialien. Und selbst bei der Herstellung von Dingen für den häuslichen Gebrauch wurde Asbest verwendet – ob in Telefongehäusen, Dämm-Materialien für Thermoskannen oder gar als Polierzusatz in der Zahnpasta. „Man nahm womöglich an“, so Harald Henzel, „dass die Fasern nicht mehr gefährlich werden können, wenn sie erst einmal verarbeitet und beispielsweise in Zement fest eingebunden sind.“
Was die Brisanz des Materials zudem verschleierte, war die lange Inkubationszeit: In der Regel dauerte es 20 bis 30 Jahre, ehe Erkrankungen auftraten. Dass nicht nur Bergleute davon betroffen waren, sondern auch Schlosser, Elektriker, Installateure, Maurer, Ofenbauer, Kraftfahrzeugtechniker und Fliesenleger krank wurden, stellte sich erst ziemlich spät heraus.
„Wer asbesthaltige Stoffe unsachgemäß bearbeitet, sie also sägt, bohrt oder fräst, der steht buchstäblich in einer Wolke von Fasern. Ohne Schutzvorrichtungen atmet er sie ein und sie bleiben dann in der Lunge stecken“, so der LAGetSi-Mitarbeiter, der für den Arbeits- und Gesundheitsschutz auf Baustellen zuständig ist. Mesotheliom heißt die tückischste und schwerste Erkrankung, die durch Asbest ausgelöst werden kann: Ein Tumor befällt das Bauch- und das Rippenfell oder den Herzbeutel. Eine Heilung ist nicht möglich, dem Erkrankten bleiben nach der Diagnose oft nur noch wenige Monate zu leben.
Dieter Pietsch wollte in eigener Sache ganz einfach Gewissheit. Er hob eine Ecke des Teppichbodens an, unter dem noch immer der Fußboden mit der Linoleum-Optik lag. Die Platten waren nun auch hier an manchen Stellen locker geworden. Er rief beim Vermieter an: „Da kam auch gleich jemand vorbei und hat eine Fliese mitgenommen“, erklärt der Mieter. Auf eine Reaktion, gar ein Gutachten, wartete er jedoch vergebens. „Ich hab also noch eine Fliese genommen und die selbst ins Labor geschickt.“ Im Prüfbericht wurde ihm bescheinigt, dass sowohl Fliesen als auch Kleber asbesthaltig waren. „Da hab ich angefangen, Krach zu schlagen“, erklärt er.
Die Gefahr ist seit Jahrzehnten bekannt
Immerhin war doch schon 1970 offiziell anerkannt, dass Asbest Krebs auslösen kann. 1979 wurde die Verwendung von Spritzasbest in der Bundesrepublik verboten – das erste Asbestprodukt von über 3000, die in Umlauf waren. Importiert wurde der Stoff jedoch weiter: Etwa 4,35 Millionen Tonnen kauften beide deutsche Staaten zwischen 1950 und 1990 auf dem Weltmarkt ein. Er wurde zu zwei unterschiedlichen Produktgruppen verarbeitet, die sich nach Art der Einbindung der Asbestfasern voneinander unterscheiden: jene mit fester Faserbindung wie Asbestzement. Und jene mit schwacher Asbestbindung, die schneller verwittern und verrotten und die gesundheitsschädigende Fasern viel eher freisetzen. Beispiele dafür sind Spritzputze, aber auch Dämm- und Füllstoffe wie Brandschutzplatten.
In den 1980er Jahren, als die Kritik immer lauter wurde, verschwand Asbest mehr und mehr aus dem Fertigungsverfahren. Es dauerte jedoch bis 1993, ehe in Deutschland Herstellung und Verwendung von Asbest generell verboten wurden.
„Mit der Entsorgung des Schadstoffes Asbest haben wir uns ab Ende der 1980er beschäftigt und immer wieder diskutiert, was man machen kann“, erinnert sich Axel Jaiser. Damals mussten viele Schüler und Lehrer im Westteil Berlins ihre Oberstufenzentren verlassen, weil dort in der einen oder anderen Form Asbest verbaut worden war. Der Ingenieur, heute Geschäftsführer der BauSchütze GmbH, einer Firma, die die fachgerechte Entsorgung von Schadstoffen übernimmt, hat bei deren Sanierung mitgeholfen. Über gut 25 Jahre konnte er die Entwicklung der Analysetechnik und der Asbestsanierung, aber auch die zunehmende Sensibilisierung für die Gefahr beobachten: „Bis zum Jahr 2000 wusste man beispielsweise nicht, dass auch der Kleber asbesthaltig ist. Man hat nur die Fliesen entsorgt.“ Danach wurde der Kleber noch lange Zeit mit einer Schutzschicht abgedeckt, so dass keine Fasern mehr austreten konnten. „Aus meiner Sicht war das zu kurzsichtig, wir haben das Problem damit nur versiegelt.“
Seit einer Novellierung der Gefahrstoffverordnung im vergangenen Jahr muss nun auch der Kleber entfernt werden, weil Handwerker ihm oft genug selbstständig lose Asbestfasern beimischten, um ihn so besser verarbeiten zu können. „Der Grundsatz lautet heute: Alle Arbeiten mit Asbest sind verboten. Davon ausgenommen sind lediglich Abbrucharbeiten, notwendige Instandhaltungsarbeiten und sogenannte Sanierungsarbeiten an schwach gebundenem Asbest“, sagt Harald Henzel vom LAGetSi. Tätigkeiten mit Asbest müssen in seiner Behörde von den Fachfirmen sieben Tage vor Beginn der Arbeiten angezeigt werden. Derzeit gehen monatlich etwa 500 solcher Meldungen beim LAGetSi ein. Sie reichen von komplexen Bauvorhaben bis hin zu einzelnen Wohnungen, in denen der Fußbodenbelag entfernt werden muss.
Wohnungswirtschaft vom Ausmaß überrascht
Egal wie umfangreich ein solcher Abbruch ist, Firmen, die dies durchführen, müssen entsprechend personell und technisch ausgestattet sein. Es sind Firmen wie die BauSchütze GmbH. Die hat sogar ihr eigenes Verfahren entwickelt und genehmigen lassen, mit dem der gewaltige Sicherheitsaufwand ein wenig minimiert werden kann. Zwar wird noch immer eine Schleuse aufgebaut, um die Zimmer, in denen der Fußboden herausgebrochen wird, hermetisch abzuschließen. Aber ein starker Sauger drinnen nimmt allen Staub und damit die beim Fräsen austretenden Fasern auf. Außerdem wird die Luft im Raum abgesaugt und gefiltert.
Als zusätzliche Sicherheit tragen die Arbeiter trotz allem einen Schutzanzug und Atemmasken. Die werden im Anschluss an die Arbeiten zusammen mit den herausgerissenen Platten und dem Kleber entsorgt – als Sondermüll, der derzeit mangels anderer Möglichkeiten nur unterirdisch gelagert werden kann.
„Die Wohnungsbaugesellschaft Gewobag nimmt das Thema Asbest sehr ernst, wir gehen jeder Schadensmeldung nach“, so die Immobilienwirtschafterin Traute Blanck. „Was wir aber nicht erwartet haben, ist der Umfang des Schadensbildes.“ Bei einem Bestand von 57.000 Wohnungen geht man derzeit davon aus, dass etwa 14.000 einen asbesthaltigen Fußboden haben. Um es genau zu wissen, hat das Unternehmen im letzten Jahr damit begonnen, sein eigenes „Asbest-Register“ zu erstellen. Das heißt, all jene Gebäude zu erfassen, in denen der Stoff in der einen oder anderen Form eingesetzt worden ist. „Asbest war ja über Jahrzehnte ein völlig legaler und auch üblicher Baustoff, und es wurde nicht festgehalten, wo der eingesetzt worden ist“, erklärt Traute Blanck. „Allein vom Baujahr her können wir heute nicht darauf schließen.“ Betroffen sind keineswegs nur Häuser aus den 1960er oder 70er Jahren. Zwar wurden gerade während dieser Zeit Floor-Flex-Platten im West-Berliner Sozialen Wohnungsbau nahezu flächendenkend verlegt, aber es sind eben auch Gründerzeithäuser saniert und mit „modernen“ Materialien ausgestattet worden.
„Wir haben durchaus aus Erfahrungen der Vergangenheit gelernt und schicken heute in jedes Gebäude, aus dem Schadensmeldungen kommen, Gutachter für Gefahrenstoffe“, erklärt die Gewobag-Mitarbeiterin. „Die gehen vom Keller bis zum Dach und nehmen auch Proben aus einzelnen Wohnungen.“ Über 500 Gutachten wurden so bisher erstellt, für 280 Gebäude liegen damit die Datenerhebungen vor. „Und das ist erst der Anfang.“
Parallel dazu wurden alle Mieter über die Problematik des Umgangs mit Asbest schriftlich und in sechs Sprachen informiert. Traute Blanck: „Wir wollen das Thema sachlich behandeln, dazu gehört auch die offene Kommunikation mit den Mietern.“ Die Mieter sollen auch wissen, was mit einer Asbestentfernung aus ihrer Wohnung auf sie zukommt: Sie erhalten eine Ausweichwohnung, ihre Möbel werden für die Zeit der Arbeiten ausgelagert und nach etwa 14 Tagen können sie in ihre Wohnung zurückziehen. Mit der gesamten Planung kann die Prozedur allerdings gut drei Monate dauern und bis zu 8000 Euro kosten.
8000 Euro Kosten pro Wohnung
Etwa 700 Wohnungen sind bei der Gewobag allein in diesem Jahr saniert worden – rund 5,6 Millionen Euro hat das gekostet. Mittel, die erst einmal so nicht eingeplant waren. „Aber wenn uns ein Schadensfall an einem Fußboden gemeldet wird und es bewahrheitet sich der Verdacht auf Asbestanteile, dann wird das Geld dafür selbstverständlich da sein“, betont sie. Intakte Fußböden allerdings werden nicht angerührt. Und das scheint auch dem Fachmann nicht notwendig: „Sind die Platten in Ordnung“, so der Ingenieur Axel Jaiser, „geht das Gefahrenpotenzial gegen Null, dann kann der Fußboden drin bleiben.“
Der aber wird benutzt – und vor allem gereinigt. Irgendwann beginnt er deshalb zu brechen und zu bröckeln. Heute ist es übrigens verboten, einen Teppichboden darüber zu decken oder einfach Laminat drauf zu kleben. Weil irgendwann der Bodenbelag darunter in Vergessenheit gerät – und das kann Folgen haben.
„Die Gefahrstoffverordnung ist im vergangenen Jahr vom Gesetzgeber noch einmal deutlich verschärft worden“, erklärt David Eberhart, Pressesprecher des Verbandes Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU). „Sie macht die Asbestsanierung in den Berliner Wohnungen noch einmal deutlich aufwendiger, da ja jetzt auch der Kleber entfernt werden muss. Aber es führt kein Weg dran vorbei.“ Und es sei ja durchaus auch schon einiges geschafft: Waren es im Jahr 2000 noch circa 90.000 Wohnungen, die asbestsaniert werden mussten, so sind es heute schätzungsweise noch 48.000. Wobei diese Zahl lediglich für die kommunalen Wohnungsbauunternehmen steht. Eberhart: „Zur Asbestbelastung in privaten Beständen gibt es keine Angaben.“
Vor Dieter Pietsch auf dem Tisch liegt ein großer Stapel mit Akten. Recherchen, Forderungen, Beschwerden – es hat sich vieles in drei Jahren angesammelt. Seit sich der Ruheständler immer intensiver mit der Asbestproblematik in seinem Wohnumfeld und bei seinem privaten Vermieter beschäftigt, umso enttäuschter ist er – und umso wütender: „Es gibt kein Gesetz, das Vermieter zwingt, ihre Wohnungen zu überprüfen und was zu unternehmen.“ Im Gegenteil, bei seinem „Hausherrn“ scheint „Entsorgung“ eher etwas mit Sorglosigkeit zu tun zu haben. Da tauchen Firmen auf, die durch Fußböden bohren müssen. Weil sie beispielsweise Kanäle für Breitbandkabel verlegen oder neue Fenstertüren einsetzen sollen. Von denen wusste niemand, was sie da für ein Material anbohren, “ … und dass sie uns und sich selbst gefährden, wenn Asbestfäden mit dem Bohrstaub hier durch die Gegend fliegen“ (Pietsch). Und dann war da auch noch der Mieter, der kürzlich unter ihm ausgezogen ist. Er musste seinen Teppichboden, den er vor langer Zeit auf den Floor-Flex-Fußboden geklebt hatte, selbst entfernen. Andernfalls, so hatte der Vermieter gedroht, geschehe es auf seine Kosten und würde teuer. „Der hat also den alten Teppichboden herausgerissen und durchs Haus in den Fahrstuhl geschleift, während da noch der Staub von den losen Vinylasbestplatten dranhing.“ (Pietsch)
Bei vielen privaten Vermietern herrscht Unverständnis, was die Probleme und Ängste von Mietern mit asbesthaltigen Materialien in ihren Wohnungen betrifft. „Und dabei geht es nicht nur um Fußböden“, erklärt der Anwalt Sven Leistikow. Asbest findet sich in Fensterbänken, Luftabzügen, Verbindungsteilen, an Rohren, Verkleidung von Rohren im Keller und Abluftanlagen in Tiefgaragen. Vor sieben Jahren wurde der Zivilrechtler erstmals in seiner Berliner Praxis mit der Problematik konfrontiert – heute vertritt er an die 200 Mandanten, die sich in der einen oder anderen Form um juristische Hilfe in Sachen Asbest an ihn gewandt haben.
Landgericht erkennt auf Schadenersatz
Da ist die Familie beispielsweise, die in großer Sorge lebt, dass ihre drei Kinder von Asbestfasern krank werden könnten. In ihrer früheren Wohnung in Charlottenburg waren im Sommer 2005 im Flur beschädigte Vinylasbestplatten „ohne besondere Vorkehrungen entfernt worden“, wie es das Berliner Landgericht am 21. Dezember letzten Jahres festgestellt hatte. Nach glaubhaften Schilderungen der Eltern sei der Bodenbelag einfach nur mit Hammer und Meißel herausgerissen worden. Ein Filtern der staubigen Luft habe es nicht gegeben, Schutzvorkehrungen seien unterblieben. Mehr noch: Materialreste blieben einfach in der Wohnung liegen und waren schließlich von den Eltern weggefegt worden. Von einer möglichen Asbestgefahr ahnten diese damals vor acht Jahren nichts. Sachverständige urteilten, dass das Risiko einer tödlichen Tumorerkrankung infolge unsachgemäßer Asbestsanierung zwar gering ist, aber auch nicht ausgeschlossen werden könne. So verurteilten die Richter den Vermieter – die kommunale Gewobag – dazu, den Kindern alle Schäden, „die ihnen aus der Gesundheitsgefährdung“ entstanden sind oder noch entstehen werden zu ersetzen.
„Wenn Gerichte festgestellt haben, dass schon eine Faser gefährlich sein kann, dann kann es ja nicht sein, ganze Fußböden einfach zu belassen wie sie sind“, empört sich der Jurist Leistikow. Das Material sei vermutlich passend zurechtgeschnitten worden und an solchen Schnittstellen könnten Fasern austreten. Außerdem altere der Belag, werde hart und breche irgendwann. „Es ist überfällig, das alles auszutauschen.“
Das ist auch die Meinung des Berliner Mietervereins. „Handlungsbedarf erst anzuerkennen, wenn die asbesthaltigen Platten gebrochen sind und das Risiko einer Erkrankung unmittelbar gegeben ist, stellt einen inakzeptablen Umgang mit der Gesundheit der Mieter dar“, erklärt BMV-Geschäftsführer Reiner Wild. „Wir erwarten einen verlässlichen Sanierungsfahrplan für alle betroffenen Wohnungen.“
Schon seit vielen Jahren stellt Andreas Otto, bau- und wohnungspolitischer Sprecher der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus, immer wieder Anfragen zur Asbestbelastung in Mietshäusern. Im April vergangenen Jahres arbeitete er mit seiner Fraktion einen Forderungskatalog an die Landesregierung aus: Ein aktuelles Asbest-Register sollte sowohl den landeseigenen als auch den privaten Bestand erfassen. Mieter sollten über vorhandene Belastungen und Gesundheitsgefährdungen in ihren Wohnungen informiert werden. Betroffene Gebäude sollten speziell gekennzeichnet und ein aktueller Bericht erstellt werden, der sowohl die Entwicklung seit 2000 als auch die Perspektive bei der weiteren Asbestbeseitigung aufzeigt. Das Ergebnis der langen Anstrengung: Das Parlament lehnte den Antrag ab.
Dieter Pietsch begnügt sich längst nicht mehr mit Bitten und Anfragen, er ist selbst aktiv geworden. In seinem Hochhaus gibt es 131 Wohnungen. Die Mieter hat er alle einzeln aufgesucht, hat sie aufgeklärt über die Gefahr und auf was sie achten sollen. „Und ich bin zu Behörden gelaufen, hab Anzeigen erstattet, mit der Baupolizei gedroht.“
Rosemarie Mieder
Im Gebrauch seit Menschengedenken
Asbest (altgriechisch „asbestos“: „unvergänglich“) ist eine Naturfaser, deren Qualitäten schon in der Antike bekannt waren. Man schätzte vor allem die „Unbrennbarkeit“ des Stoffs: Auf der Akropolis soll einige hundert Jahre vor Christus die ewige Flamme mit einem Docht aus Asbest am Brennen gehalten worden sein.
In Rom waren Tischtücher begehrt und außerordentlich teuer, die aus sogenanntem „unbrennbarem Leinen“ gefertigt waren und durch Feuer gereinigt werden konnten. Sogar Leichentücher für Könige sollen aus Asbestgewebe gewesen sein.
Weil die Fasern sich erst bei Temperaturen ab 1000 Grad entzünden, bot es sich geradezu an, Kleidung für Feuerwehrleute daraus zu fertigen, feuerfeste Dächer aus dem Material zu bauen oder auch Maschinen mit Hitzedämmungen aus dem Stoff zu versehen.
Im Juli 1900 läutete Ludwig Hatschek, Besitzer einer Asbestwarenfabrik in Österreich, das eigentliche Zeitalter der „Wunderfaser“ ein: Er erfand das Eternit – den Asbestzement.
rm
Am Anfang steht der Schadstoff-Nachweis
MieterMagazin: Was tun, wenn man defekte Fußbodenplatten in seiner Wohnung feststellt?
Sven Leistikow: Zuerst geht es darum nachzuweisen, ob die Fliesen tatsächlich Asbest enthalten. Da ist der Vermieter in der Pflicht. Man sollte ihn umgehend verständigen – und eine kurze Frist setzen, vielleicht eine Woche. Tut er nichts, sollte der Mieter selbst ein Gutachten veranlassen. Denn wenn es später einmal um Schadensersatzansprüche, Schmerzensgeldforderungen oder Mietminderungen geht, muss der Nachweis auf dem Tisch liegen, dass es sich tatsächlich um Asbestfliesen gehandelt hat.
MieterMagazin: Habe ich schon Ansprüche, wenn ich gebrochene Platten bemerke?
Leistikow: Nach einem Urteil des Berliner Landgerichts vom 16. Januar 2013 hat der Mieter Anspruch auf Mietminderung. In dem Fall stellten die Richter fest, dass bereits der Bruch einer Vinyl-Asbestplatte eine Mietminderung von 10 Prozent rechtfertigt. (Aktenzeichen 65 S 419/10 – MM 4/2013, Seite 30)
Das Interview führte Rosemarie Mieder
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