Die Stadt hat ein Asbestproblem. Wo früher spendabel zu dem teuren Baustoff gegriffen wurde, tun sich heute dringende Sanierungsfälle auf. Wie viele es sind, weiß keiner genau. Zwar haben sich Technik und Ablauf der Asbestsanierung weiterentwickelt. Aber es fehlt an einer Gesamtstrategie. Dabei hat sich die Berliner Regierungskoalition ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: Gesund und asbestfrei wohnen in Berlin – bis 2030.
Seit fast drei Jahrzehnten darf Asbest in Deutschland nicht mehr hergestellt und verbaut werden, aber der krebserregende Stoff ist damit längst nicht verschwunden. In Berlin sind allein bei kommunalen Vermietern weit mehr als 42.000 Wohnungen asbestbelastet. Entsprechende Zahlen veröffentlichte die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen im Januar dieses Jahres nach einer Anfrage des Abgeordneten Andreas Otto (Bündnis 90/Die Grünen).
Nahezu alle betroffenen Bestände liegen im Westteil Berlins, vor allem in Neukölln, Tempelhof-Schöneberg und Charlottenburg-Wilmersdorf. „Dass Asbest tatsächlich überwiegend ein West-Problem ist, hat etwas mit dem Zugang zu diesem Baustoff zu tun“, erklärt Jörg Lippert, Leiter des Bereiches Technik beim Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU). Von den 1950er bis zum Beginn der 1980er Jahre galt der Baustoff als Alleskönner: Er war feuerbeständig, verbesserte Festigkeit und Dämmeigenschaften von Baumaterialien und ließ sich zudem gut und leicht verarbeiten. Doch er war auch teuer. In der DDR kam Asbest deshalb fast nur im Fugenmaterial („Morinol“) beim Plattenbau, in Zementplatten und in Prestigeobjekten wie dem Palast der Republik zum Einsatz. Ganz anders im West-Berliner Wohnungsbau: Wandfarben und Putze, Abwasserleitungen, Müllabwurfschächte, Fensterkitt und Pappen unter den Fensterbrettern ebenso wie Balkonkübel – all das wurde mit Asbestfasern „aufgewertet“. Vor allem Vinyl-Asbest-Platten („Floor-Flex-Platten“) finden sich noch heute in Tausenden von Wohnungen. Sie galten einmal als moderner, pflegeleichter und haltbarer Bodenbelag.
Asbestbodenplatten sind das drängendste Problem
BBU-Experte Lippert: „Heute sind Floor-Flex-Platten und der darunter liegende Kleber das drängendste Problem bei der Asbestbeseitigung.“ In unversehrtem Zustand gelten sie als ungefährlich. Wenn sie mit den Jahren brüchig oder etwa durch Schleif- und Bohrarbeiten beschädigt werden, können sie krebserregende Fasern in die Raumluft abgeben. „Dann wird in der Regel der Ausbau der Bodenplatten notwendig“, so Lippert. Die Fliesen werden entfernt, der Kleber wird abgeschliffen – eine Schadstoffsanierung, die nur von darauf spezialisierten und zertifizierten Fachfirmen vorgenommen werden darf.
Lippert: „Die Technik hat sich in den zurückliegenden sieben, acht Jahren deutlich weiterentwickelt – zertifizierte Fachfirmen arbeiten mit modernen Fräsmaschinen, die über effektive Absaugvorrichtungen verfügen.“ Eine Wohnungseinrichtung müsse zumeist nur noch abgeklebt und nicht mehr ausgelagert werden. Die Mieter könnten oft schon nach wenigen Tagen in ihre Wohnung zurück.
Soll jedoch ein Wohnhaus komplett asbestsaniert werden, ist das weit aufwendiger und langwieriger, weil es eine Vielzahl von unterschiedlichen Bauteilen betrifft. Es müssen Wände aufgestemmt, Fenster herausgerissen, Leitungen entfernt werden. Lippert: „Das ist nur machbar, wenn das Gebäude leer gezogen ist.“ Wohnhaus für Wohnhaus zu sanieren, ließe sich also bei dem derzeitigen angespannten Wohnungsmarkt allein schon wegen der fehlenden Ersatzwohnungen nicht stemmen.
Die landeseigenen Vermieter gehen deshalb anlassbezogen und Wohnung für Wohnung vor – wie beispielsweise die Gewobag. In deren Eigentum befinden sich, auch nach Ankäufen großer Bestände in Reinickendorf und Spandau, rund 20.000 Wohnungen mit Asbestbelastung oder Asbestverdacht. Melden Mieter beschädigte Bauteile, erfolgt eine Prüfung und erste Gefahrensicherung. Belastete Bodenbeläge würden ausgetauscht und die Mieter in dieser Zeit in einer Ersatzwohnung untergebracht. „Bei Mieterwechsel erfolgt generell eine Prüfung durch Sachverständige, ob Asbest vorliegt und im Falle einer positiven Beprobung die Sanierung …“, heißt es auf Anfrage des MieterMagazins aus dem Wohnungsbauunternehmen.
Keine gesetzliche Grundlage für ein Register
Weil derzeit nur sechs Firmen die fachgerechte Sanierung anbieten würden, so Degewo-Pressesprecher Paul Lichtenthäler, komme es zu Staus in der Abarbeitung der Aufträge. Rund 3700 Wohnungen wurden im Jahr 2019 saniert. Das sei entschieden zu wenig, befindet der Abgeordnete Andreas Otto. Weiter kritisiert er, dass die veröffentlichten Zahlen immer nur einen Teil des Problems spiegeln. So würden diese noch nicht einmal die Sachlage bei allen landeseigenen Vermietern wiedergeben, denn die Gesobau hat – aufgrund fehlender „flächendeckender Gutachten“ – überhaupt keine Angaben gemacht. Erst recht fehlen die großen und kleinen privaten Eigentümer. Denn: „Es besteht für private Vermieter derzeit keine Verpflichtung zur Meldung oder Katalogisierung von Gebäuden mit asbesthaltigen Baustoffen gegenüber den jeweiligen Bezirken oder anderen Stellen in Berlin“, so Katrin Dietl, Pressesprecherin der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen. Für ein lange schon gefordertes einsehbares Asbestregister fehlen die gesetzlichen Grundlagen.
Wie aber ist dann die Aufgabe zu lösen, die sich die rot-rot-grüne Koalition bis 2030 gestellt hat: „Gesund und asbestfrei wohnen in Berlin“? Zu einem wichtigen Etappenziel sollte eigentlich eine interdisziplinäre Beratungsstelle werden, angekündigt und im Haushalt eingeplant bereits für das Jahr 2018 – aber nie umgesetzt. Maria-Theresia Erat von der Obersten Bauaufsicht der Stadt sieht in der Vielzahl der Zuständigkeiten beim Asbestproblem eine wichtige Ursache dafür, dass es sie bis heute nicht gibt: Die Fragen, die dort beantwortet werden müssten, richten sich nicht nur an die Baubehörden der Bezirke, sondern betreffen auch den Umwelt-, Gesundheits- und den Arbeitsschutz und fallen teilweise in die Zuständigkeit des Landeskriminalamtes (LKA). Das alles in einer kompetenten Beratung zu bündeln, sei schwierig.
Vorerst gibt ein interdisziplinäres Informationsportal allgemeine Hinweise, verweist an zuständige Behörden und zeigt Rechtsgrundlagen auf. Es soll gerade auch privaten Vermietern eine Hilfestellung sein.
„Ich habe schon den Eindruck, dass in Sachen Asbest etwas in Gang gekommen ist“, erklärt Rechtsanwalt Sven Leistikow, der auch asbestgeschädigte Mieter vor Gericht vertritt. „Aber eine wirkliche Strategie im Umgang mit dem Gefahrenstoff – die sehe ich nicht.“ Für die Beseitigung des gefährlichen Baustoffs sei eine langfristige Planung notwendig und deutlich mehr Transparenz und Ehrlichkeit, als das heute der Fall ist.
Rosemarie Mieder
Asbest: zwei Formen
Asbestfasern sind krebserregend. Unterschieden wird zwischen Asbestfasern in festgebundener und in schwachgebundener Form. Von Letzterem geht die größere Gefahr aus. Solche Fasern befinden sich beispielsweise in asbesthaltigen Spritzputzen und Gipsen, auf Stützen und Trägern aus Stahl oder Stahlbeton, in bestimmten Brandschutz-Bauplatten, Dichtungsmaterialien und -schnüren, in der Dämmung von Heizkesseln und in Asbestplatten etwa unter Fensterbrettern. Asbestfasern in festgebundener Form, wie sie in Asbestfensterbänken und Asbestblumenkästen gebräuchlich waren, aber auch in den sogenannten Floor-Flex-Platten verwendet wurden, werden nur dann freigesetzt, wenn das Material altersbedingt brüchig oder wenn es unsachgemäß bearbeitet wird, etwa durch Bohren, Schleifen oder Bürsten. Schadhafte Stellen etwa in Bodenfliesen sollten dem Vermieter umgehend gemeldet werden.
rm
Das könnte Sie auch interessieren:
Info 80: Asbest in Nachtspeicheröfen
Asbest: Wo überall steckt das Teufelszeug?
Asbest: Tödliche Fasern - eine versteckte Gefahr
Asbest: Allgemeine Gefahr rechtfertigt Mietminderung
Mängel anzeigen mit Erfolg - mit Musterschreiben -
Wohnschadstoffe meiden, Belastungen beseitigen: Die unterschätzte Gefahr
Asbest in Floor-Flex-Platten
Fahrlässigen Umgang mit asbestverseuchten Fußböden
in Wohnungen endlich beenden
Asbest: Ein Sanierungsfahrplan muss her
Zehntausende Wohnungen müssen von der Altlast befreit werden: Achtung Asbest
„Floor-Flex-Platten“: Asbest im Fußboden
Asbest: BGH-Leitentscheid v. 2.4.2014 - VIII ZR 19/13 -
Asbest, Allgemeine Gefahr rechtfertigt Mietminderung:
LG Berlin vom 11. Februar 2016 – 18 S 133/15
Beschädigte Asbestfliesen sind Gesundheitsgefährdung: Ein Amtsgerichtsurteil
Landgerichtsurteil zu Asbest: Schadenersatz auch bei Spätfolgen
Asbestplatten: LG Berlin vom 16.1.2013 - 65 S 419/10 -
Asbestplatten: LG Berlin vom 21.12.2012 - 65 S 200/12 -
Asbest in Nachtspeicherheizungen
Heizung: Abwrackprämie für Nachtspeicher
MieterMagazin-Service: Auslaufmodell Nachtspeicher
Asbestbelastung: LG Dresden vom 25.2.2011 - 4 S 73/10 -
Musterschreiben:
27.03.2021