In Berlin und Barcelona, Prag und Lissabon gehen die Menschen gegen Mietenwahnsinn und Verdrängung auf die Straße. Ihre Forderungen richten sich an ihre nationalen Regierungen. Zu Recht: Wohnungspolitik ist vorwiegend Sache der einzelnen Mitgliedsstaaten. Aber Brüssel steckt den Rahmen für die Wohnungspolitik schon heute in vielen Bereichen ab – keineswegs immer im Interesse von Mietern. Der Ruf wird lauter, dass die Europäische Union sich stärker dafür einsetzt, dass das Wohnen überall bezahlbar wird. Hierfür müssen der Kapitalverkehr reguliert werden und soziale Gesichtspunkte bei der Wohnungsversorgung eine größere Rolle spielen.
Tausende sind am 6. April auf den Berliner Alexanderplatz gekommen. Unter ihnen auch Bewohnerinnen und Bewohner aus der Fechnerstraße 7, einem gepflegten 1960er-Jahre-Haus an der Ecke Uhlandstraße. Ginge es nach den Plänen des „Projektentwicklers“, der sich in dem Haus eingekauft hat, würden schon bald Abrissbagger anrücken und Platz für einen luxuriösen Neubau schaffen.
„Damit darf er einfach nicht durchkommen“, erklärt eine der Frauen bestimmt. Ihre Forderung, dem Investor einen Strich durch die Renditerechnung zu machen, richten sie ans Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf. Gehört werden wollen sie aber auch beim Berliner Senat und vielleicht im nahen Regierungsviertel. Brüssel und die EU scheinen von ihren Sorgen weit entfernt.
In der Europäischen Union gilt das Subsidiaritätsprinzip: Die EU bestimmt nicht die Rechtsvorschriften ihrer Mitgliedsstaaten und fördert keine nationalen Wohnungsbauvorhaben. Beides ist Sache der Mitgliedsländer. „Allerdings greift die EU über ihre Wettbewerbsregeln sehr wohl in die nationalen Wohnungsmärkte ein“, so Armin Hentschel, Leiter des Instituts für Soziale Stadtentwicklung (IFSS). „Europäische Vereinbarungen haben in den zurückliegenden Jahrzehnten die wohnungspolitischen Handlungsmöglichkeiten sowohl in Deutschland als auch in anderen Staaten massiv beeinflusst.“
Zum Beispiel mit dem per EU-Vertrag festgelegten Verbot, den freien Kapitalverkehr einzuschränken. Mangels lukrativer Alternativen fließen vor allem seit der Finanzkrise 2008/2009 immer mehr Investitionsmilliarden in den Immobilienmarkt. In zunehmendem Maße gehen ausländische Investoren auch in deutschen Städten auf Einkaufstour und erwerben in großem Stil Wohnungen und Häuser.
Einseitige Geschäfte
„Real-Estate-Vagabunden“ nennt sie Michaela Kauer, Leiterin des Verbindungsbüros der Stadt Wien zur Europäischen Union. „Deren schnelle Verwertungsziele stehen gegen die Interessen von Mieterinnen und Mietern, die sich langfristig auf diesem Wohnungsmarkt versorgen müssen.“ Bei diesen Geschäften profitiere renditeorientiertes Kapital von den Kapazitäten einer Stadt, etwa deren sozialer Infrastruktur, aber, so Michaela Kauer: „Oftmals geben sie nichts zurück.“ Im Gegenteil. Sie suchen gesetzliche Lücken und verweigern der öffentlichen Hand trickreich die Steuereinkünfte. Mit sogenannten Share-Deals wird in großem Stil die Grunderwerbsteuer umgangen: Nicht mehr Gebäude als solche werden gehandelt, sondern Anteile an Kapitalgesellschaften, denen die Gebäude gehören. Laut einer Studie der Beratungsfirma Aengevelt entgehen beispielsweise Berlin auf diese Weise circa 200 Millionen Euro Steuereinnahmen jährlich. Allein 2015 wurden in der Hauptstadt Immobilien im Wert von vier Milliarden Euro als Share Deals gehandelt.
Michaela Kauer: „Während auch durch solche hochspekulativen Geschäfte die Bodenpreise ins Unermessliche steigen, können sich immer mehr Menschen Wohnen ganz einfach nicht mehr leisten: Bei rund 82 Millionen Europäern übersteigen die Wohnkosten 40 Prozent ihres verfügbaren Einkommens.“ Um das Dach über dem Kopf nicht zu verlieren, müssten sie auf vieles verzichten – und nicht selten am Lebensnotwendigsten sparen. Die Wienerin: „Jedem zehnten Europäer ist es nicht möglich, ausreichend zu heizen.“
Längst sind auch Bürger mit mittleren Einkommen von den überhitzten Wohnungsmärkten betroffen und mit den viel zu hohen Wohnkosten überfordert. Überall wurden die öffentlichen Ausgaben für bezahlbares Wohnen innerhalb der letzten Dekade zurückgefahren. Eine „EU-Task Force für Investitionen in soziale Infrastruktur in Europa“ schätzt die Investitionslücke auf 57 Milliarden Euro pro Jahr.
Die Auswirkungen sind in allen EU-Ländern spürbar: Nach Daten des Statistischen Amtes der Europäischen Union (Eurostat) ist über ein Drittel der Bevölkerung Griechenlands in einer Notlage. Selbst mit den 70 bis 210 Euro Zuschuss pro Monat, die der Staat den Ärmsten zubilligt, können sich viele keinen eigenen Wohnraum leisten. In Italien führt die Investitionsknappheit dazu, dass vor allem Familien keinerlei Chance haben, aus maroden Gebäuden und völlig unzureichenden Lebensbedingungen herauszukommen. Portugal hat seine Mieterinnen und Mieter in einer beispiellosen Weise dem „freien Markt“ überlassen – die Zwangsräumungsrate von verschuldeten Haushalten liegt bei 35 Prozent. Über zwei Millionen Spanier wurden seit 2008 auf die Straße gesetzt, ohne eine Wohn-Alternative zu haben. Der Anteil am öffentlichen Sozialen Wohnungsbau – im EU-Durchschnitt 15 bis 20 Prozent – liegt in Spanien gerade einmal bei 1,5 Prozent. Die Tschechische Republik gilt als Schlusslicht in der Europäischen Union, was die Verfügbarkeit von Wohnraum angeht: Nach dem Ende des Kommunismus wurde der Wohnungsmarkt so radikal privatisiert, dass es so gut wie keine Wohnimmobilien im öffentlichen Besitz mehr gibt.
Lesen Sie auch:
Proteste in ganz Europa
Die Proteste am 6. April fanden deshalb auch nicht nur in Berlin und 22 anderen deutschen Städten statt. Bewohner aus 16 europäischen Metropolen – Budapest und Barcelona, Paris und London, Nikosia und Lissabon und viele andere – sind auf die Straße gegangen, um sich lautstark gegen Mietenwahnsinn, Verdrängung, den Ausverkauf ihrer Städte zur Wehr zu setzen.
„Wo es um Grund und Boden geht, muss der freie Zugriff für Private eingeschränkt werden“, verlangt Reiner Wild vom Berliner Mieterverein (BMV). Wird Boden zum Spekulationsobjekt, treibt das die Preise für das Wohnen ins Astronomische. In Berlins Innenstadt werden längst Kosten von 1400 bis 3000 Euro pro Quadratmeter Bauland gezahlt. Zumeist entstehen vorwiegend Eigentumswohnungen und hochpreisige Mietwohnungen. Unter den rund 20.000 Baugenehmigungen für Wohnungen pro Jahr in der Hauptstadt sind 3000 bis 3300 Sozialwohnungen – eindeutig zu wenig, wenn man diese dem jährlichen Bevölkerungszuwachs von 40.000 neuen Bewohnern gegenüberstellt, den die Stadt zu verkraften hat. Reiner Wild: „Statt der 10 bis 15 Prozent an preisgünstigem Neubau, wie die Bundesregierung plant, müssen es in Berlin 50 Prozent sein.“
Auch der Bevölkerungszuwachs ist zu einem großen Teil Ergebnis einer EU-Regelung: der vereinbarten Personenfreizügigkeit. Sie führte – vor allem auch aufgrund des Wohlstandsgefälles in Europa – zu einer Abwanderung aus wirtschaftlich schwächeren Regionen der EU in die boomenden Zentren. Zwischen 2010 und 2015 etwa kamen nach Angaben des IFSS über 60 Prozent des Zustroms in deutsche Städte aus osteuropäischen Mitgliedsstaaten. Mietervereinsgeschäftsführer Wild: „Generell sind Niederlassungsfreiheit und damit größere Mobilität wichtig und gut – aber es stellt sich die Frage, wie die EU mit dem Ungleichgewicht umgeht, das durch die Wanderungsbewegungen entsteht und einzelne Regionen enorm unter Druck setzt.“ Städte wie Berlin brauchten Schutzmechanismen für ihre Wohnungsmärkte.
Für die Bewohner in der Fechnerstraße 7 muss eine Entscheidung rasch fallen. Mit Kündigungen und Abfindungsregelungen hat der Investor im Haus schon die meisten der 24 Mietwohnungen leergeräumt. Geblieben sind jene, die sich nicht verdrängen lassen wollen – und denen es schwerfällt, etwas Neues zu finden. Zum Beispiel Kurt S., schwerstpflegebedürftig und bettlägerig, und seine Enkelin Lea, die sich um ihn kümmert. „Alles, was man uns bisher angeboten hat, war zu klein – oder unbezahlbar“, so die Studentin. Immer wieder hat sich Lea S. in eine Schlange mit Dutzenden Interessenten eingereiht – bisher ohne jeden Erfolg.
Brüssel kennt die Probleme
„Das Bewusstsein für diese Probleme ist in Brüssel angekommen“, erklärt Barbara Steenbergen, Leiterin des Brüsseler Büros der Union of Tenants (IUT), einer Interessenvertretung von weltweit 69 nationalen und regionalen Mieterverbänden, zu denen auch der Deutschen Mieterbund (DMB) gehört.
2016 beschloss der EU-Rat, große Metropolen mit ihrer Vielfalt und ihren Interessen stärker und direkter in EU-Entscheidungen einzubinden. Und so beschäftigen sich seit drei Jahren zwölf thematische Städtepartnerschaften beispielsweise mit Klimaschutz, Migration, Mobilität und Digitalisierung. Die Mietervertreterin aus Brüssel: „Dass es uns gelungen ist, einen gemeinsamen Aktionsplan vorzulegen, ist das Ergebnis eines demokratischen Kraftakts.“ Denn Mitgliedsstaaten und Städte, Vertreter der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft, Vertreter von Forschungsinstituten, EU-Institutionen und die Europäische Investitionsbank brachten eben auch ganz unterschiedliche Interessen mit an den Tisch. Steenbergen: „Es wurde hart verhandelt über die Notwendigkeit von Sozialem Wohnungsbau und Mietobergrenzen, darüber, was bezahlbare Mieten sind, wie Spekulation entgegengewirkt und wie alles finanziert werden kann.“
An erster Stelle des Maßnahmenkatalogs, der nun auf dem Tisch liegt und sich mit seinen Empfehlungen auch an Regierungen und Kommunen richtet, steht eine Forderung an die Adresse der EU: Das sogenannte Beihilferecht muss reformiert werden. Die Richtlinie aus dem Jahr 2012 bestimmt, dass Zielgruppe der sozialen Wohnungsbauförderung nur „sozial benachteiligte Haushalte“ sein dürfen. Staaten, die gegen diese Vorgaben verstoßen, wie etwa die Niederlande, die ihre Sozialwohnungen auch für eine breite Mittelschicht zur Verfügung stellen wollen, riskieren eine Klage bei der EU-Kommission. Ein entsprechendes Verfahren, das 2018 vom Europäischen Gerichtshof entschieden wurde, bestätigte diese Auffassung der Kommission.
Die jetzige enge zielgruppenorientierte Regelung, so stellt auch eine Analyse der europäischen Städtepartnerschaft klar, sei ein wesentliches Hindernis für mehr Investitionen der einzelnen Länder in bezahlbares Wohnen. Um diese Blockade aufzulösen, müsse eine Reform des EU-Rechts erfolgen.
Und: „Hierzu brauchen wir auch endlich ein klares Votum von Deutschland im EU-Rat“, so Steenbergen. Unrealistisch sei auch die Überlastungsquote bei den Wohnkosten, die bereits vor Jahrzehnten vonseiten der EU auf 40 Prozent des Einkommens festgelegt worden war. Steenbergen: „Vor allem die Vertreter aus Ost- und Südeuropa haben klar gesagt: Unsere Schmerzgrenze liegt bei 25 Prozent.“
„Housing for all“ – Wohnen muss für alle bezahlbar sein, fordert eine europäische Bürgerinitiative, die im Januar dieses Jahres von der Europäischen Kommission zugelassen wurde – und für die seit Anfang April auch in Deutschland Unterschriften gesammelt werden. Kommen in den sieben ausgewählten Ländern eine Million Unterschriften zusammen, so liegen fünf konkrete Forderungen für eine sozialere europäische Wohnungspolitik auf dem Tisch der EU-Kommission. Neben Änderungen im Beihilferecht verlangen die Organisatoren, dass öffentliche Investitionen in bezahlbares Wohnen nicht mehr unter die Defizitgrenze fallen, die die Verschuldung der einzelnen Länder regelt („Maastricht-Kriterien“). Gemeinnützige Wohnbauträger müssten – in Zusammenarbeit mit der Europäischen Investitionsbank – bessere Kreditbedingungen erhalten. Außerdem soll privates Kurzzeitvermieten stärker reguliert und Gästewohnungs-Plattformen wie Airbnb wie Hotelbetriebe stärker besteuert werden. Eine europaweite Erfassung differenzierter Wohnsituationen könnte schließlich kommunale und natiole Bedingungen transparent erfassen und auch Handlungs- beziehungsweise Förderbedarf viel schneller sichtbar machen.
„Wenn wir ein soziales Europa gestalten wollen“, erklärt Heidrun Maier-de Kruijff, eine der Initiatorinnen der Bürgerinitiative, „dann spielt bezahlbares Wohnen für alle Schichten der Bevölkerung eine zentrale Rolle.“
Rosemarie Mieder
Ein Festival für das bezahlbare Wohnen
2017 fand das Internationale Festival für den Sozialen Wohnungsbau (ISHF) zum ersten Mal in Amsterdam statt. Vom 4. bis 8. Juni 2019 geht es nun in Lyon um europäische Städte und ihre Lebensqualität. Im Mittelpunkt: Bezahlbarer Wohnraum für alle. Dazu werden sich gemeinnützige und genossenschaftliche Wohnungsunternehmen mit ihren Leistungen und ihren Erfolgen vorstellen.
Vergeben wird diesmal auch der „Europäische Preis für eine verantwortungsvolle Wohnungswirtschaft“. Wettbewerbskriterien sind eine faire Finanzierung von bezahlbarem Wohnraum, Chancengleichheit für Gemeinschaften, Innovationen für fairen Energiewandel, der Aufbau strategischer Partnerschaften und nicht zuletzt der Umgang mit den Interessen der Mitarbeiter.
In der Jury sitzen sowohl Mietervertreter als auch Angehörige der Wohnungswirtschaft. Vergeben wird der Preis am 6. Juni dieses Jahres.
rm
Wien zeigt, wie es gehen kann
Während in Berlin nicht mal 30 Prozent des Wohnungsbestandes dem Gemeinwohl zuzurechnen sind, zeigt Wien, dass es auch anders geht: 62 Prozent der Wiener leben in einer geförderten oder kommunalen Wohnung. Das bedeutet für Hunderttausende eine Bruttokaltmiete zwischen 5 und 9 Euro pro Quadratmeter.
Wer sich für eine Gemeindewohnung bewirbt, darf netto nicht mehr als 46.450 Euro im Jahr verdienen. Bei einer vierköpfigen Familie liegt die Grenze bei 87.430 Euro. Einziehen dürfen also nicht nur Geringverdiener. Und wer später ein höheres Gehalt hat, muss auch nicht wieder ausziehen. So schafft die Stadt auch eine gute Durchmischung der Quartiere: Die Verkäuferin wohnt mit der Anwaltsfamilie Tür an Tür.
Um dieses System auch bei den in Wien durch die niedrigen Zinsen befeuerten Grundstücks- und Immobilienpreisen beizubehalten, hat die rot-grüne Stadtregierung eine neue Bauordnung erlassen: Bei Wohnprojekten darf künftig nur noch ein Drittel der Wohnfläche frei finanziert angeboten werden. Auf dem größten Stück muss geförderter Wohnungsbau stattfinden.
In Wien ist übrigens auch der größte europäische Immobilienverwalter ansässig: die „Wiener Wohnen“ – eine 100-prozentige Tochter der Stadt.
rm
27.10.2020