Folgende Fragen behandelt dieser Artikel:
- Geisterhäuser – ein Problem unter dem Radar
- Leerstandsbekämpfung: Mittel und Wege, aber kein Vollzug
- Ein Ausflug in Berliner Geisterhäuser: Den Bezirken fehlt die Traute
- Der Leerstand als Nachbar Was tun?
- Leerstand in der Berliner Geschichte: Krieg, Verfall und Abrisswut
- Millionen-Leerstand auf dem Land: Vom Ku’damm ins „Kuhkaff“?
Geisterhäuser – ein Problem unter dem Radar
Wer in Berlin eine Wohnung sucht, weiß: Der Markt ist ratzekahl leergefegt. Dennoch gibt es Wohnungsleerstand. Das liegt nicht daran, dass es für manche Wohnungen keine Nachfrage gäbe. Die meisten leerstehenden Wohnungen werden dem Mietwohnungsmarkt absichtlich vorenthalten. Wie viele das sind, weiß allerdings niemand.
Am auffälligsten sind die sogenannten Geisterhäuser, die meist schon seit vielen Jahren leer stehen und zusehends verfallen, weil sich niemand um sie kümmert. Die Gründe sind verschieden: Manchmal sind die Eigentumsverhältnisse unbekannt. Manchmal fehlt den Eigentümer:innen das Geld zum Sanieren, die Kenntnisse, wie man sich Fördergelder beschafft oder die Kraft, ihr Haus zu verkaufen. Manchmal herrscht bei ihnen einfach nur Gleichgültigkeit.
Wer leerstehen lässt, zweckentfremdet Wohnraum
Leerstände aufgrund geplanter Abrisse kommen in letzter Zeit häufiger vor. In der spekulativen Hoffnung, ein einfaches Mietshaus abreißen zu können, um an seiner Stelle ein neues lukrativeres Gebäude zu bauen, werden die dort Wohnenden mit Verwertungskündigungen, unterlassener Instandhaltung und Auszugsprämien aus dem Haus gedrängt. Diese Verdrängungsphase dauert Jahre, in denen nach und nach immer mehr Wohnungen im alten Haus verwaisen.
Dasselbe Schema wird auch bei aufwendigen Modernisierungen betrieben. Nach dem Leerzug kommt es dabei in letzter Zeit wegen steigender Baukosten sowie Personal- und Materialmangels oft zu noch größeren Bauverzögerungen, sprich: zu noch längeren Leerstandszeiten.
Besonders im Hochpreissegment stehen Wohnungen lange leer, weil Vermieterinnen zu hohe Mietforderungen stellen und auch nicht davon abgehen, wenn sich niemand findet, der den verlangten Mietpreis zahlen möchte. Statt damit herunterzugehen, wartet man lieber und nimmt in Kauf, durch Leerstand eine Zeit lang gar keine Mieteinnahmen zu haben.
Das Leerstehenlassen von Wohnraum ist eine Art der Zweckentfremdung, die wie das Betreiben einer unerlaubten Ferienunterkunft oder eine Büronutzung verfolgt wird. Auch viele Zweitwohnungen, die nur wenige Wochen im Jahr genutzt werden, wirken in der Praxis wie ein versteckter Leerstand.
Ein gewisser Prozentsatz an leeren Wohnungen ist für einen funktionierenden Wohnungsmarkt unerlässlich (die sogenannte Fluktuationsreserve). Nur müssen diese Wohnungen auch den Umziehenden erforderlichenfalls zur Verfügung stehen. Wie viele Wohnungen leer stehen, wird erstaunlicherweise amtlicherseits nicht kontinuierlich erfasst. Der wachsende Wohnungsleerstand in den 90er Jahren wurde über Stichproben des Statistischen Landesamtes und über die Stromzählermethode festgestellt. Der damalige Elektrizitätsversorger Bewag hat nach den Ablesungen der Stromzähler die Zahl der Wohnungen gemeldet, die ein Jahr lang keinen Strom verbraucht haben. So kam man 2002 berlinweit auf einen Stichtagsleerstand von 186.500 Wohnungen – zehn Prozent des Bestandes – und auf einen langfristigen Leerstand von über 100.000 Wohnungen.
Unbekannt: Wieviel steht leer?
Mit dem Mikrozensus von 2011 wurde der Leerstand erstmals umfassend statistisch erhoben. In Berlin standen damals 66.000 Wohnungen leer. Das entsprach einer Quote von 3,5 Prozent. Doch das ist längst passé. Gesicherte neue Zahlen gibt es jedoch nicht. Der Mikrozensus 2021, der darüber Auskunft geben soll, wurde pandemiebedingt auf 2022 verschoben und ist noch nicht ausgewertet. Bekannt sind die Leerstandszahlen der öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften, einiger großer Wohnungsunternehmen und von Verbänden wie dem BBU. Doch wie viel im Rest des Berliner Wohnungsmarktes leer steht, liegt im Dunkeln.
Jens Sethmann
Kommunale Anbieter: Durchlässiger für den Wohnungswechsel
Bei den sechs landeseigenen Wohnungsunternehmen und der überwiegend vom Land Berlin kontrollierten Berlinovo standen im April 2023 insgesamt 7968 Wohnungen leer. Das sind 2,1 Prozent der insgesamt 380.000 Wohnungen, die den kommunalen Wohnungsanbietern gehören. Durch die Mietregulierungen bei Wiedervermietungen sind die Bestände dieser Unternehmen durchlässiger für Umzüge. Die geringste Leerstandsquote hat die Berlinovo mit 0,95 Prozent, gefolgt von der Howoge und der WBM mit je 1,55 Prozent sowie der Degewo mit 1,99 Prozent. Über dem Durchschnitt liegen die Gewobag mit 2,26 Prozent, die Stadt und Land mit 2,48 Prozent und die Gesobau mit 3,4 Prozent. Die Leerstände der Landeseigenen sind ungleich über die Bezirke verteilt: Spitzenreiter ist Marzahn-Hellersdorf mit 1210 Wohnungen. In Friedrichshain-Kreuzberg stehen hingegen nur 396 Wohnungen leer. js
Wofür braucht es eine Fluktuationsreserve?
Ein ausgeglichener Wohnungsmarkt braucht einen gewissen Leerstand. Zwischen dem Auszug einer Mietpartei und dem Einzug der folgenden steht eine Wohnung meist ein bis drei Monate leer, um die Neuvermietung zu regeln und notwendige Renovierungsarbeiten durchzuführen. Dieser Leerstand für eine Übergangszeit wird Fluktuationsreserve genannt. Sie ermöglicht erst Umzüge in der Stadt. Ohne ausreichenden Fluktuationsleerstand müssen Menschen in unpassenden Wohnungen bleiben – der Wohnungsmarkt ist blockiert. Eine Leerstandsquote von drei Prozent wird allgemein als gesunde Fluktuationsreserve angesehen. Aktuell liegt der Leerstand in Berlin zwischen 2,1 Prozent bei den städtischen Wohnungsunternehmen und 1 Prozent bei den Genossenschaften. Der Leerstandsindex des Beratungsunternehmens CBRE, der nur den marktaktiven Leerstand in vollausgestatteten Geschosswohnungen zählt, liegt für ganz Berlin sogar unter einem Prozent. js
Leerstandsbekämpfung:
Mittel und Wege, aber kein Vollzug
Das Schneckentempo, mit dem gegen Leerstand – wenn überhaupt – vorgegangen wird, ist für „Normalbürger:innen“ kaum verständlich. Dabei stehen den Ämtern diverse Instrumente zur Verfügung, um gegen Wohnungsleerstand vorzugehen. Doch in der Praxis hapert es. Das fängt damit an, dass die Ämter auf die Meldungen aufmerksamer Bürgerinnen und Bürger angewiesen sind – eine eigene Recherche erfolgt in der Regel nicht – und zwar aus Personalmangel. Schieben ertappte Eigentümerinnen und Eigentümer dann einen Genehmigungsantrag nach, hat der vorherige Leerstand keinerlei Konsequenzen – obwohl es sich um einen Verstoß gegen das Zweckentfremdungsverbotgesetz handelte. Genehmigt wird der Leerstand allerdings nur, wenn eine Sanierung oder ein Umbau des Wohnraums geplant ist. Ansonsten verschickt das Wohnungsamt eine „Rückführungsaufforderung“: Damit wird die Eigentümerin oder der Eigentümer mit Fristsetzung und unter Androhung von Zwangsgeldern aufgefordert, die Wohnung wieder zu vermieten. Dagegen kann Widerspruch eingelegt werden. Und dann beginnt in vielen Fällen ein langwieriges Verfahren, das von den Eigentümerinnen und Eigentümer mit allerlei Tricks in die Länge gezogen wird.
Ein Beispiel: das Gebäude Hasenheide 47, wo der Eigentümer gegen die Rückfführungsaufforderung beim Bezirksamt Klage eingereicht hat. Als nächstes legte er ein Sanierungskonzept vor, woraufhin das Bezirksamt den Leerstand mit Auflagen genehmigte. Doch es kam bei den Sanierungsarbeiten immer wieder zu erheblichen Verzögerungen, so dass erneute Leerstandsgenehmigungen erteilt werden mussten. Jahrelang hielt der Eigentümer das Wohnungsamt mit sich ständig ändernden Bauablaufplänen und Holzgutachten auf Trab. Die „Belohnung“ für ihn: ein leer gezogenes Haus, das nun frei von störenden Mieterinnen und Mietern modernisiert werden kann.
Erfolgreiche Verzögerungstaktik
Das Problem sei der Vollzug, sagt die wohnungspolitische Sprecherin der Berliner SPD-Fraktion, Sevim Aydin: „Die Instrumente sind vorhanden, aber die Bezirke müssen personell so ausgestattet werden, dass sie diese auch nutzen können.“ Auch die wohnungspolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Schmidberger, sieht ein Vollzugsdefizit: „Wir müssen das Zweckentfremdungs- und Wohnungsaufsichtsgesetz für einen schnelleren Vollzug reformieren. Denn lange Anhörungsverfahren und Bußgelder führen meist eben nicht zum Abstellen des Leerstands.“ Hier, so Schmidberger, müssten die Bezirke schneller ordnungsrechtlich mit dem Treuhändermodell vorgehen können.
Das Treuhändermodell wurde 2018 eingeführt und sieht bei hartnäckiger Verweigerung seitens der Eigentümerinnen ud Eigentümer den befristeten Einsatz eines Treuhänders vor. Dieser kann die Sanierung auch gegen den Willen des Eigentümers oder der Eigentümerin in die Wege leiten. Die Bezirke argumentieren, dies sei das letzte Mittel, wenn alle anderen Maßnahmen nicht zum Erfolg führen. „Das steht zwar so in den Ausführungsvorschriften, nicht aber im Gesetz“, kritisiert Sebastian Bartels, Geschäftsführer des Berliner Mietervereins: „Wenn man es nicht einsetzt, ist dieses Instrument wenig hilfreich.“ Die Bilanz nach fünf Jahren Treuhänderregelung: In einem einzigen Fall, nämlich in der Meyerbeerstraße 78/Smetanastraße 73 in Weißensee wurde ein Treuhänder eingesetzt. Doch im November 2022 wurde die Treuhänderschaft auf Antrag des Treuhänders wieder aufgehoben, wie Pankows Stadtrat für Stadtentwicklung Cornelius Bechtler (Grüne) erklärte. Der Eigentümer lasse nun selber sanieren, der Fortschritt der Baumaßnahmen werde „in regelmäßigen Abständen“ von der Bau- und Wohnungsaufsicht kontrolliert.
Große Hoffnungen sind mit dem Start eines Pilotprojekts des Senats verbunden. In zwei Häusern wurden Treuhänder eingesetzt. „Wir wollen ausprobieren, wie effizient die Instrumente sind, welche Erfolge erzielt werden können und wo man noch nachbessern muss“, erklärt Sevim Aydin von der SPD.
Wenn die Behörde draußen bleiben muss
Dass die Tücken im Detail stecken, zeigt der Fall Hindenburgdamm, Ecke Gardeschützenweg, wo seit Jahren ein Treuhänder eingesetzt werden soll. Nach Auskunft des Stadtrats für Stadtentwicklung in Steglitz-Zehlendorf, Tim Richter (CDU), müsse aber zunächst geprüft werden, ob das marode Gebäude überhaupt noch für Wohnzwecke wiederherstellbar ist. Doch eigene Baustatiker hat das Bezirksamt nicht, und für das Betreten des Grundstücks durch einen vom Bezirk beauftragten externen Baustatiker fehle die Rechtsgrundlage.
Die Bezirke können auch nach dem Wohnungsaufsichtsgesetz vorgehen, Instandsetzungsgebote aussprechen und Treuhänder einsetzen. Maßgeblich ist dann nicht der Leerstand, sondern der schlechte bauliche Zustand eines Hauses. Doch viele Bezirke scheuen die enorm hohen Summen, die sie für die Instandsetzung aufwenden müssten. Zwar werden die aufgewandten Kosten ins Grundbuch eingetragen, doch auf kurze Sicht sind die Aufwendungen nicht zurückzuholen.
Theoretisch könnte das Bezirksamt auch Obdachlose in leerstehende Wohnungen einweisen, zumindest vorübergehend. Gesetzliche Grundlage ist das Allgemeine Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG). Doch nach den Ausführungsvorschriften gilt das nur, wenn Obdachlose nicht anderweitig untergebracht werden können. In der Habersaathstraße 40-48 wollte der Bezirk Mitte dieses selten genutzte Instrument anwenden, doch dann kam es doch zu einer Einigung mit dem Eigentümer. Vorübergehend stimmte dieser dem Einzug von Obdachlosen zu – ohne formale Einweisung.
Birgit Leiß
Das Mietenkataster liegt auf der langen Bank
Im Berliner Koalitionsvertrag wurde die Einrichtung eines digitalen Wohnungs- und Mietenkatasters vereinbart. Es soll für den kompletten Wohnraum Angaben zu Lage, Baujahr, Ausstattung, Mietverhältnissen, Miethöhen und Eigentumsverhältnissen erfassen. Ein solches Kataster ist ein Schritt für mehr Transparenz auf dem Wohnungsmarkt und wird vom Berliner Mieterverein, aber auch von den Grünen sowie den Linken seit Jahren gefordert. „Nur so können wir den Leerstand lokalisieren, erfassen und kontrollieren“, erklärt Sevim Aydin, wohnungspolitische Sprecherin der SPD. Völlig unverständlich ist allerdings, dass das Kataster erst 2028 kommen soll, wenn das Gebäude- und Wohnungskataster des Bundes vorliegt. bl
Ein Ausflug in Berliner Geisterhäuser:
Den Bezirken fehlt die Traute
80 sogenannte Geisterhäuser soll es in Berlin geben. Seit Jahren oder Jahrzehnten völlig unbewohnt rotten sie vor sich hin, bis sie gar nicht mehr oder nur mit enormem Aufwand noch zu retten sind. Wie kann das sein?
Fast wie ein Mahnmal wirkt das Eckhaus Hindenburgdamm, Ecke Gardeschützenweg in Steglitz. Die Fenster stehen offen oder sind zerbrochen, ein zerschlissener Stofffetzen flattert von einem Balkon, und das Dach ist notdürftig mit Holzlatten und einer Plane abgedeckt. Im Erdgeschoss sind noch die verblichene Schilder einer Döner-Bude und eines Reformhauses zu sehen. Vor einigen Jahren war ein Passant durch herabstürzende Fassadenteile verletzt worden. Seitdem ist der Gehweg abgesperrt. Zu Fuß Gehende müssen auf dieser Seite des viel befahrenen Hindenburgdamms auf den Fahrradstreifen ausweichen. Eine Frau aus dem Nachbarhaus schimpft über den Müll und Unrat hinter dem Bauzaun – ein Paradies für Ratten. „Einfach abreißen, das Ding“, sagen zwei Kundinnen des Blumenladens gegenüber. Ob der einst prächtige Gründerzeitbau noch zu retten ist, darf bezweifelt werden. In jedem Fall dürften die Sanierungskosten in die Millionen gehen.
„Eigentum – die heilige Kuh“
Seit etwa 20 Jahren soll das Gebäude komplett leer stehen, so genau weiß das niemand. Was der Eigentümer Dr. Santosh A., ein pensionierter Mediziner, damit bezweckt, ist genauso unklar. „Es hat fast den Anschein, als hätte er Freude am Verfall“, sagt Marianne Wagner, Bezirksverordnete der Grünen-Fraktion in Steglitz-Zehlendorf. Die Architektin, die viel Erfahrung mit der Sanierung von Häusern hat, befürchtet, dass das Gebäude mittlerweile ein Fall für die Abrissbirne ist. „Man muss dem Amt aber zugestehen, dass es sich auf einem schwierigen Terrain bewegt: Eigentum ist hierzulande eine heilige Kuh“, so Wagner.
Seit 2018 haben die Bezirke die Möglichkeit, in solchen Fällen Treuhänder einzusetzen. Diese können Sanierung und Wiedervermietung in die Hand nehmen – auch gegen den Willen der Eigentümer. Das Berliner Zweckentfremdungsgesetz wurde damals entsprechend verschärft. Der Finanzsenator hat einen Fonds für solche Problemimmobilien aufgelegt. Im Fall Hindenburgdamm/Gardeschützenweg wurde ein solches Verfahren auch kurz nach der Einführung des Treuhändermodells eingeleitet. Die Finanzierungszusage des Senats liegt seit Jahren vor, ebenso ein Gutachten zur Bewertung von Grundstück und Gebäude. Doch passiert ist trotz wiederholter Ankündigungen nichts.
Dr. Santosh A. besitzt in Berlin noch zwei weitere Geisterhäuser, darunter die Kameruner Straße, Ecke Cornelius-Fredericks-Straße (ehemals Lüderitzstraße) im Wedding. Dieser Altbau musste 2018 polizeilich geräumt werden, nachdem dort Familien aus Bulgarien und Rumänien unter unhaltbaren Zuständen wohnen mussten. Doch für dieses Haus gibt es Hoffnung. Es ist eines der beiden Pilotprojekte der Senatsverwaltung.
Nur einen Kilometer entfernt, in der Burgsdorfstraße 1, werden demnächst die Abrissbagger anrücken. Nach Auskunft des Bezirksamts Mitte ist die Abrissverfügung bestandskräftig, das Widerspruchsverfahren der Eigentümerin sei abgeschlossen. Denn Waltraud G. ließ sich zwar weder mit Zwangsgeldern noch mit Pfändungen für die vom Bezirk vorfinanzierten Sicherungsmaßnahmen dazu bewegen, ihr Haus instandzusetzen. Aber mit umso mehr Engagement klagte sie gegen jede behördliche Verfügung. Die Folge: Das Wohnhaus ist nur noch eine Ruine und laut einem Gutachten des Bezirks akut einsturzgefährdet. Seit 2017 ist die Burgsdorfstraße, eine Seitenstraße der Müllerstraße, für den Verkehr komplett gesperrt. Hinter dem Bauzaun türmt sich der Müll – kein angenehmes Umfeld für Restaurants und das Prime Time Theater direkt nebenan. Eine ganze Straße leidet darunter, dass eine Eigentümerin ihren Pflichten nicht nachkommt.
Hier grüßen Tauben aus den Fenstern
Ein weniger bekanntes Geisterhaus steht gleich um die Ecke des KaDeWe: das Gebäude Ansbacher Straße 35. Der 1960er-Jahre-Bau steht seit 2016 leer. Die Balkone bröckeln, die meisten Fensterscheiben sind kaputt, in allen Stockwerken sitzen Tauben auf den Fenstersimsen und zeigen an, dass sie das Gebäude in Besitz genommen haben. Die Ansbacher Straße 35 soll nach dem Willen ihrer Eigentümerin abgerissen und durch einen Neubau ersetzt werden – ein häufiges Schicksal preisgünstiger Nachkriegsbauten in der City West. Wird die Schaffung von Ersatzwohnraum angeboten, haben die Bezirke ein solches Ansinnen bisher meist durchgewunken. In diesem Fall ist geplant, das Haus auf dem Nachbargrundstück Ansbacher Straße 33 zu modernisieren und zusammen mit einer Dachaufstockung insgesamt 47 neue Wohnungen zu errichten. Doch die Eigentümerin ließ die erteilte Abrissgenehmigung für die Nummer 35 verfallen. Als trotzdem mit Abrissarbeiten begonnen wurde, hat die Bauaufsicht deren Stopp erwirkt. Ein Widerspruch der Eigentümerin wurde von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung zurückgewiesen. Daraufhin reichte sie eine Klage ein, die derzeit noch beim Verwaltungsgericht anhängig ist. Das Gebäude steht jetzt mit 14 Wohnungen ohne Genehmigung leer. Wer einst dort lebte und unter welchen Umständen die Bewohner:innen ausziehen mussten, ist meist nicht mehr in Erfahrung zu bringen.
Anders in der Hasenheide 47 in Kreuzberg. Noch im Sommer 2021 stand Rainer Kasten, der letzte verbliebene Mieter im Vorderhaus, auf seinem Balkon und erzählte, wie seine Nachbar:innen nach und nach ausgezogen sind. Auch ihm und seiner Familie wurden Abfindungen in steigender Höhe angeboten, doch er wollte lieber eine verlässliche Rückzugsvereinbarung aushandeln. Bis zuletzt harrte die Familie auf einer Baustelle aus. Mittlerweile ist der Altbau bis auf eine Shisha-Bar im Erdgeschoss verwaist.
Auffällig bei den Geisterhäusern ist, dass es häufig gar nicht um spekulativen Leerstand oder Profitstreben geht. Die Ansbacher Straße sowie die Hasenheide 47 – wo in Eigentumswohnungen umgewandelt wurde – sind eher Ausnahmen. Das Verhalten vieler anderer Eigentümer ist eher von Irrationalität geprägt. So soll die Eigentümerin der Burgsdorfstraße 1 geäußert haben, sie wolle auf keinen Fall verkaufen. Ihre Häuser seien „ihre Kinder“. Waltraud G. gehören noch zwei weitere Schrotthäuser, darunter das Gebäude Brandenburgische Straße 10 in Wilmersdorf, wo sie auch gelegentlich beim Kärchern des Hofes zu sehen ist, wie eine Mieterin aus dem Nachbarhaus berichtet. Seit 20 bis 25 Jahren, so schätzt die Nachbarin, steht der Altbau bis auf die Gewerbeeinheiten leer. Von außen macht dieses Geisterhaus einen passablen Eindruck, doch das Dach soll stark beschädigt sein. Noch wäre das Haus zu retten. Aber wie lange?
Im Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf ist der Fall bekannt. Eine Leerstandsgenehmigung wurde weder beantragt noch bewilligt; daher ist die Behörde aktiv geworden, so Stadtrat Arne Herz (CDU): „Es werden alle gesetzlichen Möglichkeiten genutzt, die zur Beendigung des rechtswidrigen Zustands führen.“ Doch Waltraud G. beherrscht das „Pingpong-Spiel“ mit den Behörden perfekt. Gibt es eine Anordnung, lässt sie ein paar Kleinigkeiten am Haus in Ordnung bringen – und schon ist der Anschein erweckt, sie erfülle die Auflagen.
Ping-Pong mit dem Amt
Diese „Alibi-Reparaturen“ kennt Ingrid Schipper nur zu gut. Sie hat vor über sieben Jahren die Nachbarschaftsinitiative Friedenau gegründet. Die engagierte Gruppe kämpft seitdem darum, dass in das Jugendstilhaus Odenwald-, Ecke Stubenrauchstraße – Geisterhaus Nummer drei von Waltraud G. – endlich wieder Leben einzieht.
„Flora“ haben sie das Haus getauft. Durch unzählige Aktionen und Gespräche mit den politisch Verantwortlichen haben die Hausretterinnen, wie sie sich nennen, öffentliche Aufmerksamkeit für diesen Skandal erreicht Fragt man Ingrid Schipper danach, warum sich die Bezirke an den Geisterhäusern die Zähne ausbeißen, muss sie nicht lange überlegen: Es sei „mangelnde Traute“. Oft werde nur halbherzig gegen den Leerstand vorgegangen, statt den Eigentümer:innen endlich die „Pistole auf die Brust zu setzen“.
Birgit Leiß
Treuhand-Pilotprojekte: Senat greift den Bezirken unter die Arme
Bausenator Christian Gaebler (SPD) hat noch als Staatssekretär ein Pilotprojekt zur Anwendung des Treuhändermodells angekündigt. Zwei Häuser wurden ausgewählt: die Gebäude Odenwald-, Ecke Stubenrauchstraße und die Kameruner-, Ecke Cornelius-Fredericks-Straße. Das Verfahren ist an sich nicht neu, doch mit dem Senat im Rücken soll es den Bezirken das Vorgehen erleichtern. So steht mit der städtischen Wohnungsbaugesellschaft Stadt und Land ein Treuhänder bereit. Zudem bietet der Senat Unterstützung bei juristischen Fragen an. bl
Der Leerstand als Nachbar:
Was tun?
Vielen Mieterinnen und Mietern agiert die Politik zu langsam – sie werden selbst aktiv gegen Leerstand in ihrem Haus oder ihrer Nachbarschaft. So haben sich zahlreiche kleine Initiativen rund um einzelne leerstehende Wohnhäuser gebildet. In Mitte wurde beispielsweise das Gebäude Habersaathstraße 40-48 Ende 2021 von Wohnungs- und Obdachlosen besetzt, die sich in der Interessengemeinschaft „Leerstand Hab-ich-Saath“ organisiert hatten.
Eine künstlerische Herangehensweise an das Thema Verdrängung als Folge von spekulativem Leerstand hat das Neuköllner Künstlerkollektiv Reflektor gewählt. Ihre lebensgroßen Puppen aus weißem Gips erzählen im Straßenraum und in Performances Geschichten aus betroffenen Kiezen und regen zum Nachdenken über die Problematik an.
Wegweiser oder Pranger?
Der „Leerstandsmelder“ wiederum möchte ganz praktisch helfen, indem er städte- und sogar länderübergreifend leerstehende Immobilien verzeichnet. Gegründet wurde das Projekt 2010 in Hamburg, um einen Überblick über unbewohnte Gebäude für alternative Kulturangebote zu bekommen. Das Prinzip: Auf der Website leerstandsmelder.de melden sich Benutzerinnen und Benutzer mit ihrer Mail-Adresse an und können dann Einträge erstellen. Die hinterlegten Informationen werden von anderen Nutzer:innen überprüft und ergänzt. Für Berlin können bereits seit 2012 leerstehende Wohnungen und Gebäude gemeldet werden – aktuell sind es stadtweit 955. Zahlreiche weitere Kommunen in Deutschland und einigen Nachbarländern sind auf der Karte vertreten. Längst geht es nicht mehr nur um Platz für Initiativen, sondern auch darum, Bewusstsein für Leerstand zu schaffen und Informationen für Interessierte bereitzustellen. Daran gibt es auch Kritik, denn die Einträge werden nicht überprüft. Eigentümerinnen und Eigentümer fühlen sich daher teilweise zu Unrecht an den Pranger gestellt. Die Initiative kontert, es stünde ihnen frei, zu erklären, warum ihre Immobilie leersteht. Auch die Beschwerde, Spekulanten könnten durch den Leerstandsmelder auf neue Objekte aufmerksam werden, können die Macher wenig nachvollziehen. Schließlich seien die gemeldeten Wohnungen und Häuser häufig bereits aus dem Markt gefallen, könnten daher kaum Rendite erwirtschaften oder aber seien bereits Spekulationsobjekte.
Leerstandserfassung auch beim Mieterverein
Auch der Berliner Mieterverein (BMV) erfasst Leerstand. Im April 2021 hat das MieterMagazin dazu aufgerufen, dem BMV länger leerstehende Wohnungen zu melden. Bereits im September 2021 waren 860 Wohnungen gemeldet – quer durch alle Bezirke und im Eigentum vor allem privater Vermieter:innen. Die Erfassung geht weiter: Wem Wohnungen, die seit mindestens drei Monaten leer stehen, bekannt sind, möge sich mit dieser Information an den Mieterverein wenden. Der verspricht Anonymität: Die Mail-Adresse oder andere Kontakt-Daten der Meldenden werden gelöscht. Nach Auswertung werden die Ergebnisse veröffentlicht. Parallel dazu ermittelt der BMV über Anfragen in den Bezirksverordnetenversammlungen den konkreten Umgang mit den bekannt gewordenen Leerständen.
Katharina Buri
Akteneinsicht für jede:n
Warum steht das Haus oder die Wohnung um die Ecke leer, und was unternimmt das jeweilige Bezirksamt dagegen? Um das herauszufinden, haben Berliner:innen die Möglichkeit, gemäß Berliner Informationsfreiheitsgesetz (IFG) Akteneinsicht oder -auskunft zu erhalten. Ganz einfach geht es über die Website „fragdenstaat.de“. Dort ans jeweils zuständige Bezirksamt gestellte Anfragen sind öffentlich einsehbar. Bei der Aktenauskunft und -einsicht unterstützt auch die Berliner Beauftragte für den Datenschutz – weitere Informationen im Ratgeber auf
www.datenschutz-berlin.de/informationsfreiheit/rechtliche-grundlagen/berliner-informationsfreiheitsgesetz-ifg/
Wenn die Nachbarwohnung leersteht
Wenn eine benachbarte leerstehende Wohnung nicht oder nur teilweise geheizt wird, dann kühlt sie aus – und die umliegenden Haushalte müssen mehr heizen, um die gewünschte Temperatur in ihrer Wohnung zu erreichen. Eine Mietminderung kann deswegen jedoch nicht geltend gemacht werden, so das Amtsgericht Frankfurt (Oder). Umgekehrt dürfen Vermieterinnen und Vermieter die Betriebskosten eines Mietshauses nicht nur auf die bewohnten Wohnungen umlegen, sondern müssen auch die unbewohnten einbeziehen – und gegebenenfalls selbst für deren Anteil an den Kosten für Hausmeisterdienste, Wasser, Müll und Co. aufkommen.
Leerstand hier melden
Auf der Plattform leerstandsmelder.de können leerstehende Wohnungen und Gebäude eingetragen und eingesehen werden. Dem Berliner Mieterverein kann man den Leerstand an die Mail-Adresse a.erkan@berliner-mieterverein.de mitteilen.
Leerstand in der Berliner Geschichte:
Krieg, Verfall und Abrisswut
Wohnungsleerstände gab es in der Berliner Geschichte nur in wenigen, aber einschneidenden Phasen. Die erste Leerstandsphase trat im Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648) auf. Durchziehende, marodierende Heere und Hunger dezimierten die Bevölkerung der Doppelstadt Berlin-Cölln von 12.000 auf 7500 Einwohner. Von den 1209 Häusern lagen rund 450 „wüst“. Das entspricht einer Leerstandsquote von 37 Prozent.
Die nächste Leerstandsphase folgte wenig später. Der „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I. (1688 bis 1740) setzte leidenschaftlich auf den Ausbau seiner Hauptstadt, um Preußen mehr Geltung zu verschaffen. Sein Plan war, die neu abgesteckte Friedrichstadt zügig zu bebauen, und so verpflichtete man im Jahr 1721 vermögende Bürger, dort Häuser zu errichten. Zwar schenkte ihnen der König das Baumaterial, 10.000 Taler und sogar das Grundstück, doch das Bauen war trotzdem ein Verlustgeschäft. Zögerlichen Bürgern beschied der König barsch: „Der Kerl hat Geld, soll bauen!“ Das Ergebnis war eine Immobilienblase. Bis 1740 sind in der Friedrichstadt 985 meist zweigeschossige Häuser entstanden, von denen viele jahrelang leerstanden. Wenn die Bauherren überhaupt Käufer fanden, mussten sie deutlich unter Wert verkaufen. Und Mieter ließen sich auch mit einem halben Jahr Mietfreiheit nicht locken.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der Zeit der Industrialisierung, wuchs Berlin zu einer Millionen-Metropole heran. Der Wohnungsbau hielt damals mit dem Zuzug nie Schritt, Wohnungsnot war der Normalzustand, Leerstände traten kaum auf. Erst recht war dies der Fall in den Zeiten nach den beiden Weltkriegen. Die Not verlangte die Nutzung jedes auch nur irgendwie bewohnbaren Unterschlupfs.
In der West-Berliner Stadterneuerung ab 1963 wurden Leerstände dann allerdings bewusst herbeigeführt. Zur „Beseitigung städtebaulicher Missstände“ sollten in zwölf Sanierungsgebieten 46.500 Altbauwohnungen abgerissen werden. Um die Häuser „freizumachen“, wurde kaum noch das Allernötigste repariert, so dass die ersten Mieterinnen und Mieter von selbst auszogen. Die übrigen versuchten die Sanierungsträger zum Umzug in die Neubausiedlungen zu drängen. Die leergezogenen Mietskasernen blieben aber oft noch jahrelang stehen, weil der ehrgeizige Sanierungsfahrplan finanziell und organisatorisch ins Stocken geriet. Ende der 70er Jahre standen tausende verwahrloste Wohnungen leer, während auf der anderen Seite eine große Wohnungsnot herrschte. Junge Leute begannen 1979, leerstehende Häuser zu besetzen und sie eigenmächtig wieder bewohnbar zu machen. Auf dem Höhepunkt der Welle waren im Sommer 1981 rund 170 Häuser besetzt.
Auch in Ost-Berlin standen in den 70er und 80er Jahren viele Altbauwohnungen leer. Zur „Lösung der Wohnungsfrage“ setzte die Staats- und Parteiführung ganz auf den industriellen Neubau am Stadtrand. Der Altbaubestand in den Innenstadtbezirken wurde vernachlässigt. Für Reparaturen fehlte das Geld, die Handwerker und auch der Wille. Denn langfristig sollte die „Architektur der alten Gesellschaftsordnung“ durch sozialistische Neubauten ersetzt werden. Mit dem Ende der DDR wurden diese Pläne Makulatur. 1990 standen in Ost-Berlin mindestens 9500 Wohnungen leer, weil sie wegen schwerer baulicher Mängel unvermietbar waren.
1970er: Wohnungsnot plus Leerstand
Nach dem Fall der Mauer blieb das von vielen erwartete sprunghafte Wachstum Berlins auf fünf Millionen Einwohner:innen aus. Das Gegenteil trat ein: Berlin schrumpfte auf 3,2 Millionen. In Ost wie West wurden massiv Arbeitsplätze abgebaut. Viele Berliner:innen folgten daher der Arbeit und zogen westwärts. Andere nutzten die neue Freizügigkeit und bauten sich im Umland ein Häuschen. Etwa ab 1996 war der Berliner Wohnungsmarkt für rund zehn Jahre zumindest in Teilbereichen ein Mietermarkt: Das Angebot überstieg die Nachfrage. Wohnungssuchende mussten nicht jede Wohnung zu jedem geforderten Preis nehmen.
Um die Jahrtausendwende bezifferte der Senat den Leerstand auf 100.000 Wohnungen. Das waren zum einen unsanierte Altbau-Wohnungen, zum anderen viele Plattenbau-Wohnungen in Stadtrandlagen.
Zur Leerstandsbekämpfung haben Bund und Länder im Jahr 2003 das Programm „Stadtumbau Ost“ aufgelegt. Damit wurde vor allem der Abriss von Plattenbauten bezahlt. Noch während man die letzten Wohnungen mit öffentlichem Geld vernichtete, wurde überdeutlich, dass sich der Berliner Wohnungsmarkt wieder anspannt. Die damals beseitigten Wohnungen wären in der Folgezeit wieder anstandslos vermietbar gewesen. Aber Alternativen zum Abriss wie zum Beispiel ein vorübergehendes „Stilllegen“ standen damals nicht ernsthaft zur Debatte.
Jens Sethmann
Verhandler oder Revolutionär?
Den Hausbesetzer:innen der 80er Jahre war es ein Anliegen, in den leerstehenden Gebäuden ihren Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben zu verwirklichen. Gegenüber dem Staat spaltete sich die Szene aber bald in Verhandler und Nicht-Verhandler. Während die einen versuchten, mit den Behörden Verträge über die Legalisierung und eine Förderung der Instandsetzung auszuhandeln, wollten die anderen ihren revolutionären Anspruch nicht aufgeben. Dieser Zwiespalt spiegelte sich ab 1981 auch im West-Berliner Senat wider: Während Bausenator Ulrich Rastemborski (CDU) durchaus ernsthaft mit den Instandbesetzer:innen verhandelte, hat Innensenator Heinrich Lummer (CDU) als Hardliner die Räumung der Häuser vorangetrieben. js
Millionen-Leerstand auf dem Land:
Vom Ku’damm ins „Kuhkaff“?
In den Großstädten suchen die Menschen verzweifelt Wohnungen, während auf dem Land massenhaft Wohnraum leersteht. Könnte man das eine Problem nicht mit dem anderen lösen? Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) sorgte im März für Aufsehen, als sie in einem Zeitungsinterview angesichts der Wohnungsnot in den Städten versuchte, die Menschen für einen Umzug aufs Land zu begeistern. Der ländliche Raum biete besonders für Familien mit Kindern „eine hohe Lebensqualität, weg vom Lärm der Großstadt“. Der Hintergrund: Nach Geywitz Angaben gibt es in Deutschland 1,7 Millionen leerstehende Wohnungen, der überwiegende Teil in strukturschwachen Regionen auf dem Land. Der Städte- und Gemeindebund spricht von 1,3 Millionen marktfähigen Wohnungen im ländlichen Raum.
In den Ohren wohnungssuchender Großstädter:innen klingt die Idee erstmal reichlich zynisch: Ihr findet nichts in Friedrichshain-Kreuzberg? Klein Kleckersdorf bei Posemuckel ist auch ganz schön! Es wirkt wie ein Ausweichmanöver der Bauministerin, die es nicht schafft, den Wohnungsmarkt in den Großstädten zu entspannen, und einräumen musste, dass sie das Ziel der Bundesregierung, jährlich 400.000 Wohnungen neu zu bauen, im Jahr 2022 weit verfehlt hat.
Digitalisierung ist das A und O
Dass die Leute nur dann zum Wohnen auf dem Land motiviert werden können, wenn sich die Bedingungen verbessern, weiß auch Klara Geywitz. Es brauche mehr Digitalisierung, sprich: leistungsfähige Internetverbindungen und Mobilfunknetze. Menschen mit homeofficetauglichen Jobs müssen dann nicht unbedingt in der Nähe zum Büro in der Stadt zu wohnen. Die Bundesregierung setze in diesem Jahr 790 Millionen Euro ein, um „Städte und Gemeinden lebenswerter zu gestalten“, so die Ministerin. Das ist allerdings die Gesamtsumme der Städtebauförderung, die nicht allein in ländliche Regionen fließt. Immerhin: Brandenburg erhält aus diesem Topf mit 42,9 Millionen Euro etwas mehr als Berlin mit 41,5 Millionen Euro.
Das Institut Empirica hat Ende 2021 rund 1,72 Millionen leerstehende Wohnungen ausgemacht, hält aber nur 600.000 für kurzfristig beziehbar. „Fast zwei Drittel der Leerstände sind nicht in Städten oder deren Umland, sondern jott-wee-dee auf dem Lande“, sagt Empirica-Chef Reiner Braun. Sein Lösungsvorschlag: „Vielleicht könnte eine ‚Buschprämie‘ helfen, also Steuererleichterungen für Investitionen und Erwerbseinkommen in ländlichen Leerstands-Regionen.“
Allein durch staatliche Investitionen lässt sich das Land jedoch nicht attraktiver machen. Aus vielen Dörfern sind in den letzten Jahrzehnten nach und nach der Tante-Emma-Laden, die Dorfkneipe und der Hausarzt verschwunden. Viele Dörfer sind nur noch reine Wohnsiedlungen. Für Einkäufe, Arztbesuche, Behördengänge, Paketsendungen oder Restaurantbesuche muss man in den nächst größeren Ort – und das geht meist nicht ohne eigenes Auto. Selbst für den Weg zur Grundschule ist oft ein Schulbus nötig. Das Ausbluten des Dorflebens wird von der Landbevölkerung zwar beklagt, aber auch als Schicksal hingenommen. Eine Kehrtwende ist – der Popularität von Hochglanzmagazinen wie „Landlust“ zum Trotz – nicht in Sicht.
Jens Sethmann
Iberische Leerstandsbekämpfung – im staatlichen Griff
Über 720.000 Wohnungen stehen in Portugal leer. Mit dem Programm „Mehr Wohnraum“ geht die sozialistische Regierung seit April dagegen vor. Die Gemeinden können nun Eigentümer:innen zum Vermieten leerer Wohnungen auffordern. Tun sie dies nicht innerhalb von 100 Tagen, übernehmen die Gemeinden die Immobilien und vermieten sie. Die Regierung hat im Mai ein Wohnraumgesetz beschlossen, das nicht nur die Mieten dauerhaft deckelt, sondern auch Leerstand geahndet: Bleibt Wohnraum länger als zwei Jahre lang leer, wird die Grundsteuer um 150 Prozent erhöht. In Spanien stehen 3,4 Millionen Wohnungen leer – fast 14 Prozent des gesamten Wohnungsbestandes. js
29.06.2023