„Die kalte Pracht“ – so nannten Berliner im 19. Jahrhundert während des Winters ihre „gute Stube“. Nur zu besonderen Anlässen wie dem Weihnachtsfest wurde der Vorzeigeraum genutzt und beheizt. Glänzend geschmückte Christbäume entwickelten sich damals zum Massenphänomen und unterstrichen das Bedürfnis, Wohnzimmer als Orte privat-behaglicher Prachtentfaltung auszugestalten.
Zwischen 1800 und 1860 entwickelte sich das Mieterdasein zur vorherrschenden Wohnform des städtischen Lebens in Berlin. Ob Arbeiter, Beamte, Klein- oder Großbürgertum – das Wohnen zur Miete statt im eigenen Haus erfasste nun fast alle gesellschaftlichen Schichten. Parallel dazu hatte auch Preußen unter dem Einfluss der Französischen Revolution die äußerlich erkennbaren Zeichen der Standeszugehörigkeit, Kleiderordnung und Perücken, abgeschafft. Doch das Bedürfnis nach Repräsentation des eigenen gesellschaftlichen Status blieb erhalten und verlagerte sich nun vom öffentlichen in den privaten Raum. Eindeutige Klarheit über die realen wirtschaftlichen Verhältnisse bot nun der Wohnstandard selbst, den man in Salon und Wohnzimmer ausstellte. Hinzu kam, dass Reich und Arm oft im gleichen Mietshaus lebten. Der erste Stock galt als Beletage für das gehobene Bürgertum – auch damals schon per Zeitungsinserat annonciert: „Unter den Linden Nr. 3 A ist eine belle Etage nebst Stallung zum 1. April 1840 zu vermieten. Näheres beim Kammerdiener Koehler“ (Spenersche Zeitung, 6. Januar 1840).
Souterrain, im Winter besonders feucht und kalt, sowie Dachgeschoss, von Brunnen und Abort im Hof am weitesten entfernt, waren die billigsten Mietquartiere. Insofern existierte aus Standesgründen keine Hausgemeinschaft. Bewohner der Beletagen verkehrten untereinander und nicht mit den Armen im Dachgeschoss. Wer es sich leisten konnte, mietete eine möglichst große Wohnung. Jedem Zimmer wurde eine eigene Funktion zugewiesen: großer und kleiner Salon für den Empfang von Gästen, Esszimmer, Rauchzimmer, Bibliothek, dazu Schlafräume sowie Küche und Wirtschaftsräume.
Nichts darf an Arbeit erinnern
Einfache bürgerliche Familien mussten sich mit einer einzigen „guten Stube“ begnügen. Sie wurde möglichst geschont, Möbel waren oft wochenlang mit Laken abgedeckt. Hier wie dort galt: Nichts in den repräsentativen Besuchsräumen durfte auch nur annähernd an „echte Arbeit“ erinnern. Daher gehört das dick gepolsterte Sofa bis heute zu den bekanntesten Wohnzimmermöbeln des Biedermeier. Klavierspiel und Näharbeiten dienten der Muße, in Vitrinenschränken wurde feines Porzellangeschirr zur Bewunderung ausgestellt (und nie benutzt). Auch Zimmerpflanzen dienten ab den 1830er Jahren der Dekoration. Wem nur ein einziger Wohn- und Schlafraum zur Verfügung stand, verbarg vor seinen Besuchern alle Gegenstände des alltäglich Notwendigen. Das Bett besaß einen mit Tuch bespannten Couvertrahmen oder wenigstens eine Tagesdecke, über den Frisiertisch warf man ein weißes Tuch, notfalls auch nur ein Schnupftuch über sein Rasierzeug. Allein das Überflüssige im Mobiliar durfte sichtbar sein und verkörperte Rang und Stellung.
Und was ist, nebenbei gesagt, überflüssiger als ein abgeholzter Baum in der eigenen Wohnstube? Der lichter- und glitterfunkelnde Tannenbaum zur Weihnachtszeit stieg in eben jener Epoche zum Weihnachtsschmuck schlechthin auf. Gefördert wurde der Ritus von der evangelischen Kirche, die sich darin von der katholischen Tradition der Weihnachtskrippe gezielt absetzen wollte. In Berlin entstand mit E.T.A. Hoffmanns „Nussknacker und Mausekönig“ (1816) auch das erste Märchen rund um eine Bescherung am Weihnachtsbaum – weltbekannt geworden durch Tschaikowskis sinfonisches Ballett von 1892.
Erst im fortgeschrittenen 20sten Jahrhundert beginnt die gute Stube ein echtes Wohnzimmer zu werden, das nicht für festliche Anlässe geschont wird, sondern in dem man nun wirklich lebt und wohnt und unterschiedliche Funktionen zusammenführt: Es dient als Bibliothek, Besuchs-, Ess- und alltäglicher Aufenthaltsraum für die Familie, was durch die Erfindungen von Grammophon, Radio und zuletzt dem Fernsehen noch befördert wurde.
Jedoch zur Weihnachtszeit mit Tannenbaum geht es oft noch zu wie in der alten Geschichte vom Nussknacker: Klingling, klingling, die Türen sprangen auf – Mama und Papa fassten die Kinder bei der Hand und sprachen: „Kommt doch nur und seht, was euch der Heilige Christ beschert hat.“
Michaela Schröder
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MieterMagazin 12/08
Der Baum als nutzlose Krönung des repräsentativen Wohnzimmers
Foto: Wikipedia
Viele Anekdoten, Redewendungen oder auch historische Skurilitäten kommen aus dem Bereich des Wohnens. Unsere Serie „Wohnen im Kulturgedächtnis“ wird solche Geschichten in loser Folge erzählen.
11.04.2017