Treppen und Flure in Mietshäusern – man betritt sie täglich und nimmt sie doch meist nur als „reine Verkehrsfläche“ wahr. Viele Treppenhäuser verströmen kaum mehr Atmosphäre als ein Eisschrank, und zuviel Fläche wird für den Weg von der Haustür zur Wohnung nicht vergeudet. Das war nicht immer so: Der Flur galt einst als der wichtigste Raum des Hauses, und der Ausgestaltung des Treppenhauses wurde in der Gründerzeit ganz besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
In vielen Treppenhäusern ist vor allem an das allwöchentliche Kehren und Putzen gedacht. Unempfindliche Wände und ein perfekt zu reinigender Boden scheinen das Wichtigste zu sein. Allenfalls einige auf den Treppenpodesten verteilte Grünpflanzen lassen hier und da jemanden vermuten, dessen Verschönerungswille ungebrochen ist. So mühen sich denn zahllose Ableger widerstandsfähiger Topfpflanzen zumindest ein bisschen die Tristesse des halböffentlichen Raums zu mildern, während im Erdgeschoss drei Kinderwagen schon wieder die labile Idylle gefährden – und den sowieso schon knappen Durchgang zusätzlich verengen.
Dabei konnte ursprünglich einmal der unmittelbar hinter dem Hauseingang gelegene Raum, der Flur, sogar der größte und belebteste Teil eines Hauses sein. Hier trafen sich die Leute, es wurde geredet und gehandelt, Waren wurden verkauft. Es war die Schnittstelle, wie man heute sagen würde, zwischen drinnen und draußen. Mit zunehmendem Platzmangel in den Städten verringerte sich dessen Größe aber stetig. Nur wer es sich leisten konnte und wollte, baute in der Folgezeit großzügige Eingangsbereiche, Foyers, Entrees, Vestibüle und demonstrierte dadurch seine wirtschaftliche Kraft und seinen Anspruch an die Architektur.
Treppen sind bereits im 17. Jahrhundert in Berlin zu finden, denn schon zu diesem Zeitpunkt wurden hier mehrstöckige Häuser gebaut. Die Treppe konnte entweder offen vom Flur aus nach oben führen oder auch von der Durchfahrt aus erreichbar sein. Oder aber sie lag getrennt vom Eingang zum Erdgeschoss hinter einer danebenliegenden zweiten Eingangstüre. Oft waren es schlichte einläufige Treppen, die in den einzelnen Etagen an irgendeiner anderen Stelle weiter nach oben fortgeführt wurden – da, wo sie am günstigsten und nützlichsten platziert werden konnten.
Treppenhäuser erst im 18. Jahrhundert
Von einem annähernd „richtigen“ Treppenhaus kann aber erst im 18. Jahrhundert die Rede sein, als die Treppe in einem eigenen Raum nach oben geführt wurde – woraufhin sich das Problem der unzureichenden Beleuchtung stellte. Die Bewohner gelangten vom Treppenpodest oder einem Eingangszimmer nun direkt zu ihrer Wohnung beziehungsweise zu ihren einzelnen Räumen auf der Etage, deren Türen zum allgemeinen Treppenraum rausgingen. Ein eigener, abgeschlossener Wohnungsflur war damals noch unbekannt. Die Aufteilung des Hauses in private und halböffentliche Räume differenzierte sich erst nach und nach aus.
In der Folge entstanden unterschiedliche Treppenhaustypen mit verschiedenen Treppenanlagen, die heute oftmals unbeachtete Dokumente des einstigen handwerklichen Könnens sind – wenn die Häuser denn noch stehen. Meist ist bei stark verändernden Umbauten von Wohngebäuden die Treppe als einziger Bauteil in einem weitestgehend originalen Zustand, der einen Anhaltspunkt für die historische Identität und Herkunft des Hauses geben kann. Man könnte diese Treppen als eine Art Rückgrat der Häuser ansehen, weil sie exakt in die Gebäude eingepasst werden mussten. Dazu benötigten die Treppenbauer zur damaligen Zeit einige Fertigkeiten: Oft standen die Mauern nicht rechtwinklig zueinander, verliefen dazu noch krumm und schief und darüber hinaus variierten zusätzlich die Geschosshöhen. Gefordert war trotz dieser Widrigkeiten aber, dass die Stufen ein gleichmäßiges Steigungsverhältnis und gleiche Auftrittsbreiten aufwiesen. Außerdem durften unterschiedlich große Podeste das Gleichmaß des Laufens nicht stören. Wer einmal über eine verkürzte Stufe oder unterschiedliche Stufenhöhe gestolpert ist, weiß, wie wichtig dieses Gleichmaß ist, weil man sich beim Treppensteigen blindlings darauf verlässt. Aus gutem Grund vergreift sich also niemand leichtfertig bei einem Modernisierungsumbau an einer tadellos funktionierenden Treppe.
Hinsichtlich Konstruktion und Materialwahl beim Treppenbau gab es bis zur Einführung der Berliner Bauordnung im 19. Jahrhundert keine Vorschriften. Lokale handwerkliche Traditionen und formale Eigenarten wurden von seriellen Fertigungen unterschiedlicher Stile abgelöst. Erst die baupolizeiliche Verordnung von 1853 für Berlin und 1892 für die Vororte Berlins legte die gesetzlichen Vorschriften bezüglich der Feuersicherheit fest. Massive Wände mussten von da ab die Treppe umgeben und sie selbst musste aus nicht brennbarem Material bestehen. Der Fluchtweg konnte aber alternativ durch ein zusätzliches zweites Treppenhaus gewährleistet werden, das vom Hof aus zu erreichen war. Regulär benutzten dieses Nebentreppenhaus die Mieter des Seitenflügels sowie die Dienstboten und Lieferanten.
Visitenkarte des bürgerlichen Hauses
Im Massenwohnungsbau seit 1862 bildeten sich nur wenige unterschiedliche Typen von Mietshaustreppen heraus. Das Bürgertum hatte die Mietshäuser aber als gewinnbringende Kapitalanlage entdeckt, und um zahlungskräftige Mieter anzulocken, legte man entsprechenden Wert auf den ersten Eindruck des Hauses: Fassade und Eingangsbereich mit Treppenhaus mussten etwas hermachen. Eine ähnliche Tendenz kann man heute ganz aktuell wieder in jenen Mietshäusern antreffen, die in Einzeleigentum umgewandelt wurden. Viel goldglänzendes Messing findet sich dort in verschnörkelter Form an Klingelschildern, Klinken, Briefkästen und Lampen, diesmal damit die Käufer der Eigentumswohnung das Gefühl bekommen, etwas Hochwertiges, Gediegenes zu erstehen.
Um 1900 wirkten an der schmuckvollen Ausgestaltung des Treppenhauses die unterschiedlichsten Berufe mit, die man heute nur noch vom Hörensagen kennt. Allerdings erleben einige handwerkliche Fähigkeiten inzwischen auch wieder eine kleine Renaissance, da mit der Modernisierung in den 90er Jahren in vielen alten Häusern die ehemals prachtvollen Ausstattungen rekonstruiert wurden. Angefangen beim grafischen Bodenfliesenmuster über den bunten Fliesenspiegel mit ornamentaler Abschlussleiste und farbig getönter Wand bis hin zur Decken- und Wandbemalung und bunten Treppenhausfenstern samt reich verzierten Treppengeländern findet sich zu Beginn des letzten Jahrhunderts jede nur erdenkliche Variation einer üppigen Ausgestaltung. Und nicht immer ist alles wirklich hochwertig gewesen: Seltene Hölzer und wertvolles Steinmaterial wurden geschickt mit Farbe und Pinsel imitiert.
Jens Sethmann
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MieterMagazin 4/07
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alle Fotos: Rolf Schulten
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Berliner Treppen vor 1850
Treppenanlagen in Mietshäusern aus der Gründerzeit gibt es bekanntlich sehr viele in Berlin, während Treppen aus dem alten Berlin bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts nur noch selten zu finden sind. Der größte Teil befindet sich in Wohngebäuden der Spandauer Vorstadt im Bezirk Mitte. Überraschend groß ist der Anteil original erhaltener Holztreppen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: allein 130 in der Spandauer Vorstadt. In der westlich der Friedrichstraße anschließenden Friedrich-Wilhelm-Stadt sind noch etwa 40 Wohngebäude der Erstbebauung zwischen 1825 und 1830 mit ihren ausnahmslos hölzernen Treppenanlagen überliefert. In der Friedrichstadt, der barocken Berliner Stadterweiterung von 1688, existieren nur noch zwei Holztreppen von vor 1850.
js
Aus: Volker Hübner: Berliner Treppen in Wohngebäuden des 17. bis 19. Jahrhunderts, be.bra Verlag, Berlin 1995.
28.12.2018