„Berlin ist nicht nur die Stadt der Kasernen, sondern auch der Pensionen“, heißt es in dem Buch „Berlin und die Berliner“ von 1905. Zur Zeit des Kaiserreichs gab es zeitweise über 1000 Pensionen, die ein nicht zu unterschätzender Faktor auf dem Berliner Wohnungsmarkt waren. Betrieben wurden sie fast ausschließlich von Frauen.
Berliner Pensionen waren eine Mischung aus Hotel und Untervermietung. Die Pensionszimmer – auch vornehm „chambres garnis“ genannt – waren möbliert, voll ausgestattet und lagen in der Wohnung, die auch von der Pensionswirtin selbst bewohnt wurde. Die Wirtin und die „Zimmerherren“ oder „Chambregarnisten“ lebten also in einem Haushalt. Die Verpflegung war im Preis inbegriffen. Die Gäste bekamen ihren Morgenkaffee oft aufs Zimmer gebracht, für das Abendessen hatten sie sich zu festen Zeiten im Esszimmer einzufinden. Auch für die Reinigung der Zimmer und für die Wäsche der Zimmermieter war die Wirtin zuständig. Die Zimmer wurden tage-, wochen- oder monateweise vermietet.
Das Untervermieten von Zimmern war für Frauen eine der ganz wenigen Möglichkeiten, eigenständig für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Die meisten Pensionswirtinnen waren verwitwet, zum großen Teil waren sie Beamten- und Offizierswitwen. Staatsbedienstete waren in Preußen zwar gesellschaftlich hoch angesehen, starben sie aber vor ihrem Ruhestand, hatte der Staat nur wenig für deren Hinterbliebene übrig. Die Witwengelder reichten zum Leben nicht aus, erst recht nicht, wenn noch Kinder zu versorgen waren. Auch die gesellschaftliche Stellung war dahin: Nach dem Tod des Mannes wurde die Frau nicht mehr in die Kreise eingeladen, in denen sie vorher verkehrt hatte.
Erwerbsarbeit außerhalb des Hauses war für Frauen im 19. Jahrhundert nicht üblich. Als Dienstpersonal in einem anderen Haushalt zu arbeiten, hätte wiederum dem Standesbewusstsein der Beamtenwitwen widersprochen. So blieb nur die Vermietung als Erwerbsquelle. In ihrer standesgemäß großen Wohnung beschränkte sich die Witwe auf ein Zimmer und nahm in den anderen Räumen zahlende Gäste auf. Die Nachfrage nach Wohnraum war im schnell wachsenden Berlin anhaltend hoch. Auch aus den Provinzen kamen verwitwete Frauen nach Berlin, um hier eine Pension zu eröffnen. Sie mieteten große Wohnungen extra zu diesem Zweck an.
Das Selbstverständnis der Pensionswirtinnen und die öffentliche Meinung über sie lagen weit auseinander. Als Beamtenwitwen betrachteten sie sich weiterhin als „salonfähig“, in der Realität waren sie aber aus den „besseren Kreisen“ ausgeschlossen. Etwas verbittert bezeichneten die Pensionswirtinnen in ihrer Verbandszeitung sich selbst als „Damengewesene“. Im Verhältnis zu ihren Untermietern betrachteten sie sich als „Pensionsmütter“, die in ihrem Haushalt die Gäste wie Familienmitglieder aufnahmen und umsorgten. Diese Mutterrolle entsprach dem damaligen Frauenbild. Kaufmännisches Denken war vielen Frauen fremd. Dennoch bestimmte das Zerrbild der geizigen, herrischen und neugierigen Wirtin das Image. Im Buch „Berliner Compaß“ wurde 1870 regelrecht gewarnt: „Man vergesse nicht, daß jede Wirtin mit ihrem Mieter auf ewigem Kriegsfuß steht. (…) Hinter den meisten jener so lockend erscheinenden Tafeln hausen Feinde, besonders Feindinnen, die nicht mehr und nicht weniger als Dein Bestes wollen, Dein Bestes, d.h. Dein Geld, gegen möglichst geringe Gegenleistung.“ Der Schriftsteller Stefan Zweig, der das Sommersemester 1902 in Berlin verbrachte, erinnert sich an seine Wirtin: „Die Berlinerin war korrekt und hielt alles tadellos im Stand; aber bei ihrer ersten Monatsrechnung fand ich in sauberer steiler Schrift jeden kleinen Dienst berechnet, den sie erwiesen: drei Pfennige für das Annähen eines Hosenknopfes, zwanzig Pfennige für das Beseitigen eines Tintenfleckes auf dem Tischbrett, bis schließlich nach einem kräftigen Addierstrich für ihre sämtlichen Bemühungen sich das Sümmchen von 67 Pfennigen ergab.“
Ruf und Selbsteinschätzung
Oft stand auch der Verdacht im Raum, dass in den Pensionen Kuppelei und Prostitution betrieben wurde. Die Wirtinnen waren deshalb peinlich auf ihren tadellosen Ruf bedacht. Viele nahmen aus diesem Grund generell keine Frauen als Gäste auf und den Zimmerherren war „Damenbesuch“ meist streng verboten.
Die längerfristigen Pensionsmieter waren ganz überwiegend junge Männer, häufig Offiziere und Studenten. Frauen wurden in Preußen erst 1908 zum regulären Studium zugelassen. Junge Frauen, die nach Berlin kamen, heuerten meist als Dienstmädchen in Privathaushalten an, wo sie auch wohnten. Deshalb haben Frauen selten in Pensionen Unterkunft gesucht.
Die Einrichtung der Pensionen stieß bei den Studenten oft auf Ablehnung. „Kein Gegenstand im Zimmer ist ein erfreulicher Anblick“, klagte ein Student im Jahr 1911. „Man stellt allen nur erdenklichen Nippes, Schweine mit einem grünen Kleeblatt in der Schnauze, Automobile, Zeppeline auf den kaminartigen Kachelofen, hängt die schönsten Familienbilder, Herrn und Frau Schulz im Hochzeitsstaate, mit dem jüngsten Kind und so weiter an die Wände und breitet eine möglichst farbig gestickte rote Samtdecke auf den Tisch. Fremd und aufdringlich starrt einen die bunt zusammengewürfelte Zimmereinrichtung wie einen Eindringling an.“
Gerhart Hauptmann, der 1884 zum Studieren nach Berlin kam, berichtete über sein möbliertes Zimmer: „Es ist frostig, wie diese Räumlichkeiten zu sein pflegen. Ich gelange zu meinem Tuskulum durch einen engen, nach Mänteln und Schuhen riechenden Korridor, den meist fettige Dünste schwängern. Auf diese Weise fängt ein besonderes Martyrium für mich an.“
Die Pensionsbesitzerinnen waren jedoch anderer Ansicht. In ihrer Verbandszeitung hieß es 1916, es dächten „unzählige junge Männer mit Dankbarkeit daran zurück, wie sie im behaglichen Heim, in guter Gesellschaft, ohne den Gefahren des Studentenlebens ausgesetzt zu sein, ihre freie Zeit in Pensionen verleben konnten.“
Der Krieg beendete den Boom
Die Zahl der Pensionen wuchs über die Jahre kontinuierlich an. Im Jahr 1871 waren im Berliner Adressbuch 34 Pensionen verzeichnet, sieben Jahre später schon über 100. Die Marke von 1000 Pensionen wurde 1910 überschritten. Die höchste Zahl war 1914 mit 1305 erreicht.
Im Ersten Weltkrieg mussten über 300 Wirtinnen aufgeben, denn viele Zimmermieter wurden eingezogen, und ausländische Gäste blieben aus. Der Widerstand gegen Frauen als Pensionsgäste sank deshalb rapide.
Die kriegsbedingt schlechte Lebensmittelversorgung stellte die Wirtinnen vor zusätzliche Schwierigkeiten. 1919 blieben nur noch 975 Pensionen übrig. In der Notlage nach dem Ersten Weltkrieg sahen sich auch wohlhabende Familien zur Untervermietung gezwungen, wie Gabriele Tergit in ihrem Roman „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ von 1931 beschreibt: „Im schwarzen Musikzimmer schlief eine Serbin, im Renaissance-Herrenzimmer ein Student, ins romanische Eßzimmer war ein Ungar gekommen, und in den Hinterzimmern wohnte eine russische Familie. Die Besitzerin hatte sich auf ein Stübchen neben der Toilette zurückgezogen oder hatte die ganze Wohnung vermietet, um sich ernähren zu können.“
Die Pensionen haben sich langsam professionalisiert und wurden den Hotels immer ähnlicher. Die Wirtinnen wohnten häufig nicht mehr selbst in der Pension, und Dauermieter wurden seltener. Pensionen des alten Typs sind in West-Berlin erst in den 70er Jahren weitgehend verschwunden.
Jens Sethmann
Pensionen in W., Schlafgänger in O.
Die Pensionen waren vor allem ein Phänomen des bürgerlichen Berliner Westens. Während der Kaiserzeit befand sich mehr als die Hälfte der Pensionen im Postzustellbezirk W., also von der Friedrichstadt über den Potsdamer Platz und das Tiergartenviertel bis zum Zoo. Eine nennenswerte Anzahl gab es noch in den Bezirken S.W. – heute das westliche Kreuzberg – und N.W. – hier vor allem die Dorotheen- und die Friedrich-Wilhelm-Stadt, die als Studentenviertel galten. In den proletarischen östlichen Stadtteilen gab es hingegen nur sehr wenige Pensionen. Hier mussten sich Arbeiterfamilien etwas hinzuverdienen, indem sie Teile ihrer meist schon engen Wohnungen „abvermieteten“, also an Untermieter vergaben. Nicht immer hatten die „Aftermieter“ ein ganzes Zimmer. „Schlafgänger“ mieteten nur eine Übernachtungsmöglichkeit in einem Bett, das manchmal sogar schichtweise genutzt wurde.
js
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04.05.2017