Kaum jemand kennt noch die Kammern, die in den bürgerlichen Wohnungen Berlins um 1900 die Schlafstatt für die Dienstmädchen beherbergten. Klein und in die unattraktivsten Ecken eines Grundrisses verbannt, sind diese winzigen Räume längst im Zuge von Modernisierungen der übrigen Wohnungsfläche zugeschlagen worden. Falls sie überlebt haben, dienen sie heute allenfalls noch als Abstellraum. Keiner käme auf die Idee, dass hier früher jemand sein Zimmer hatte. Auch die berüchtigten Hängeböden in Flur und Küche sind nur noch dem Hörensagen nach geläufig, sie sind inzwischen ebenso Geschichte.
Es waren mittellose junge Mädchen und ledige Frauen bis etwa 30 Jahre, die vom Land in die Großstädte zogen, um dort „in Stellung“ zu gehen, wie es damals hieß. Dienstmädchen bildeten um die Wende zum 20. Jahrhundert die größte weibliche Berufsgruppe, und fast 70 Prozent des Bürgertums hatten mindestens ein Dienstmädchen. In den meisten Großstädten wurden die Dienstboten außerhalb der Etagenwohnungen in unbeheizten Mansardenzimmern auf dem Boden untergebracht. In Berlin dagegen, wo in den Dachgeschossen der Mietshäuser Waschküchen und Trockenböden untergebracht waren, schliefen sie zum großen Teil in den Etagenwohnungen ihrer Herrschaften. Wenn es die Größe der Wohnung zuließ, legte man allerdings auf eine räumliche Trennung zum Personal sehr viel Wert. Dienstboten hatten nur durch den separaten Lieferanten- und Hintereingang Zutritt zur Wohnung. Zu erreichen war der Nebeneingang über eine zweite Treppe.
In den Wohnungsgrundrissen der Gründerzeit befinden sich die Kammern für das Personal meist neben der Küche, der Speisekammer oder dem Bad – ein Kleinstraum, den man von der übrigen Fläche abgeknapst hatte. In diesem winzigen Raum beschränkte sich die Möblierung auf das Nötigste: eine eiserne Bettstelle, ein Stuhl, ein paar Kleiderhaken an der Wand und ein Wäscheständer fanden darin Platz. War der Zuschnitt etwas größer geraten, kamen noch Schrank, Kommode oder Waschtisch dazu. Außerdem wurden von der Herrschaft Bettdecke und -wäsche gestellt. Die einzigen Möbel, die die Dienstboten vom Land in die Stadt mitbrachten, waren aus Weiden geflochtene, abschließbare Reisekörbe – woran man sie bei ihrer Ankunft auf den Bahnhöfen untrüglich erkennen konnte. Da es vielen Mädchen verboten war, ihre Zimmer abzuschließen, boten die Weidenkörbe oft die einzige Möglichkeit, um persönlichen Besitz unterzubringen und ihren Lohn aufzubewahren.
Privatheit nicht vorgesehen
Die Schlafkammern mit ihren spartanischen Ausstattungen waren nicht als privates Refugium für eigene Wohnansprüche gedacht. So heißt es mahnend in dem zeitgenössischen Ratgeberbuch „Die Hausfrau in ihrem Schalten und Walten“: „Von Zeit zu Zeit muss die Hausfrau sich auch vergewissern, dass die Mädchen, wenn sie nach dem abendlichen Aufräumen der Küche und der Erledigung der letzten Geschäfte ihre Kammer aufsuchen, nicht etwa noch lange aufbleiben, vielleicht noch mit anderen Dienstboten aus dem Hause Schwatzkränzchen abhalten oder gar im Bette lesen. Ganz abgesehen von den sonstigen Unzuträglichkeiten und Gefahren, die mit derartigem nächtlichen Treiben verbunden sind, gebietet schon die Rücksicht auf die Gesundheit der Dienstboten, die von mindestens 6 Uhr morgens bis nachts 9 und 10 Uhr und länger auf den Beinen sind, dass sie sich einer ausreichenden Nachtruhe hingeben.“
Ein großer Teil der Landmädchen stellte von der Herkunft her keine großen Ansprüche an die Unterbringung. Es genügte, wenn das Zimmer ein Fenster hatte und das nötige Mobiliar enthielt. Oft waren sie von zu Hause aus oder von ihren Stellungen in der Landwirtschaft noch schlechtere Schlafgelegenheiten gewöhnt.
Andererseits bedeutete eine Mädchenkammer im Vergleich zu anderen Schlafmöglichkeiten eine geradezu luxuriöse Unterbringung. Häufig hatten die Dienstmädchen nur auf dem berüchtigten Hängeboden ihre reine Schlafstatt. Dabei handelte es sich um kleine Gelasse, die in den hohen Wohnungen durch eingezogene Zwischendecken über der Speisekammer, dem Bad oder Flur entstanden, in die man von der Küche oder vom Flur aus mit Hilfe einer Leiter kam. Sie waren mit Türen versehen, und nur in den wenigsten konnte man stehen oder hatte Tageslicht. Die meisten waren nicht höher als 1,50 Meter und so klein, dass nur ein Bett und ein Reisekorb darin Platz fanden.
Theodor Fontane verewigte 1897 einen solchen Hängeboden in seinem Roman „Der Stechlin“, in dem das Dienstmädchen Hedwig berichtet: „Als ich nach Berlin kam, da gab es noch die Hängeböden. Immer sind sie in der Küche, mitunter dicht am Herd oder auch gerade gegenüber. Und nun steigt man auf eine Leiter und wenn man müde ist, kann man auch runterfallen. Aber meistens geht es. Und man macht eine Tür auf und schiebt sich in ein Loch hinein, ganz so wie in einen Backofen. Und am schlimmsten ist es im Sommer. Draußen sind 30 Grad, und auf dem Herd war den ganzen Tag Feuer; da ist es dann, als ob man auf den Rost gelegt würde. Aber ich glaube, sie dürfen so was nicht mehr bauen. Polizeiverbot.“
Schon unter den Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts waren die Meinungen über diese Schlafstätte sehr geteilt. 1862 wetterte die konservativ orientierte „Kreuzzeitung“ gegen den Missstand, während es für einen Berliner Prokuristen bei der innenarchitektonischen Planung seiner neuen Wohnung 1875 außer Zweifel stand, dass „Auguste natürlich auf den Hängeboden muss“. Erst als die Baupolizeiordnung von 1887 die Mindesthöhe für solche Räume aus gesundheitlichen und hygienischen Gründen auf 2,70 Meter festlegte, wurde die Errichtung von Hängeböden in Neubauten unterbunden. Allerdings nutzte man die vorhandenen Verschläge selbstverständlich weiter. Weitsichtig vermutete ein paar Jahre später Oskar Stillich, Nationalökonom an der Berliner Humboldt-Akademie, dass diese noch immer so verbreitete Form der Unterbringung „eine Tatsache sei, von der die Geschichtsschreibung der Zukunft vielleicht einmal mit Staunen Kenntnis nehmen wird“.
Um 1900 hatten 54 Prozent von 432 befragten Berliner Dienstmädchen ein Zimmer für sich allein. Die Übrigen mussten sich mit dem beschriebenen Hängeboden begnügen oder aber hatten gar keinen privaten Bereich. Ihnen wurde lediglich ein allgemein zugänglicher Raum zugewiesen, der als Wäsche- oder Bügelkammer oder als Badezimmer eingerichtet war. So beschreibt ein Berliner Dienstmädchen ihre Situation: „Es steht in demselben mein Bett, Nachttisch, Waschtisch, ein Schrank für meine Kleider, mein Wäschekorb, die Badewanne und ein Säulenofen.“
„Veränderungsdruck“
Nicht zuletzt diese Arbeits- und Lebensbedingungen führten dazu, dass laut einer zeitgenössischen statistischen Umfrage über 90 Prozent der Berliner Dienstmädchen „sich verändern“ wollten. Viele Dienstmädchen suchten ihre Arbeitgeber danach aus, wo ihnen ein angemessenes Zimmer zum Schlafen geboten wurde. Heute erinnert allenfalls noch die Stellung eines Au-pair-Mädchen entfernt an die Zeiten der Dienstboten, die Tag und Nacht unter dem Dach ihrer Herrschaft zubringen mussten.
Jens Sethmann
16 Stunden am Tag zu Diensten
Für die jungen Landfrauen gab es in der Stadt im Grunde nur die Dienstbotenstellung als Möglichkeit zum Gelderwerb, da diese auch in der bürgerlichen Gesellschaft akzeptiert und unterstützt wurde. Man fand, dass diese haus- und familienbezogene Frauenarbeit der „eigentlichen Bestimmung des Weibes“ noch am ehesten entgegen kam. Gleichzeitig verhieß der Stellenantritt als Dienstmädchen auch ein Dach über dem
Kopf, regelmäßiges Essen und soziale Kontakte. Dienstmädchen hatten mit 16 Stunden die längsten Arbeitszeiten aller Beschäftigten und die größte Abhängigkeit von der Familie der Dienstherren. Die Rechte und vor allem die Pflichten der im Haus ihrer Arbeitgeber wohnenden Dienstmädchen wurden durch die preußische Gesindeordnung von 1810 geregelt. Feste Arbeitszeiten waren darin nicht vorgesehen. Auch nachdem die Gesindeordnung 1918 aufgehoben wurde, fand der Acht-Stunden-Tag keine Anwendung, blieben Urlaub, nächtliche Ruhepause, Freizeit oder die Gewährung eines ganzen freien Tages ungeregelt.
js
Literatur
Heidi Müller: Dienstbare Geister – Leben und Arbeitswelt städtischer Dienstboten. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1985
Violet Schultz: In Berlin in Stellung – Dienstmädchen im Berlin der Jahrhundertwende. Edition Hentrich, Berlin 1989
Ingrid Schaub: Zwischen Salon und Mädchenkammer – Frauen in Biedermeier und Kaiserzeit. Goldmann, München 1998
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22.12.2018