Wer diesen Haustürschlüssel zum ersten Mal sieht, wundert sich bestimmt über seine Form: An beiden Enden befindet sich ein identischer Bart. Wozu soll das gut sein? Die Rede ist vom „Berliner Durchsteckschlüssel“, der seit bald 100 Jahren zu den Besonderheiten der Mietermetropole gehört und durch sein ausgeklügeltes Schließsystem auch heute noch verblüfft. Bis in die 70er Jahre war er an vielen Berliner Schlüsselbunden zu finden, inzwischen aber wird dieser liebenswerte Oldtimer von moderneren Schließsystemen mehr und mehr verdrängt.
In der Regel reicht ein Bart völlig aus, um ein Schloss zu schließen. Das wusste natürlich auch Schlossermeister Johann Schweiger, als er vor mehr als 90 Jahren in Wedding an einer Neuerung tüftelte, die seine Produktpalette entscheidend bereichern sollte. Nicht das banale Auf- und Zuschließen interessierte ihn, sondern der 24-Jährige hatte quasi den Traum aller Hausbesitzer und Hauswarte vor Augen: Jeder Bewohner sollte abends, nachdem er die Haustüre aufgeschlossen hatte, auch gezwungen sein, sie immer wieder sofort abzuschließen – ein ja auch heute nach wie vor gültiger Wunsch. Die Lösung, die der junge Unternehmer fand, war daher genial: ein Schlüssel mit zwei identischen Bärten, der einen „Schließzwang“ hat. Man kann diesen Schlüssel, nachdem man die Türe damit aufgeschlossen hat, nicht wie üblich einfach aus dem Schloss herausziehen und davonspazieren, sondern muss ihn sodann durch das Schloss auf die andere Seite der Türe durchschieben. Und auch dort gibt das Schloss den Schlüssel erst wieder zum Herausziehen frei, nachdem man die Türe von dieser Seite wieder vorschriftsmäßig verschlossen hat. Nur mit einem speziellen Hauswartschlüssel wird tagsüber der Schließzwang ausgeschaltet. Wirkungsvoller konnte man vergesslichen und säumigen Hausbewohnern also kaum beikommen!
Geniale Lösung
1912 meldete die Firma Albert Kerfin & Co. aus Berlin-Wedding das Patent auf Durchsteckschloss und Schlüssel als „System Schweiger“ an, der Erfinder Johann Schweiger hatte die 1893 gegründete Weddinger Traditionsfirma, die bis dato Türschließer produzierte, im gleichen Jahr übernommen. Die Urkunde über die Erteilung des Patents Nr. 585232 ließ allerdings 13 Jahre auf sich warten und wurde erst 1925 ausgehändigt. In den folgenden Jahren verbreitete sich das neue Schließsystem innerhalb Berlins. Die Firmenchronik der Albert Kerfin & Co. GmbH verzeichnet für die Aufbaujahre nach 1945: „Viele Wohnungsbaugesellschaften und Privateigentümer setzen auf das Durchsteckschloss.“ In den Ostteil der Stadt konnte Kerfin nach dem Mauerbau allerdings nicht mehr liefern, so dass die Durchsteckschlösser dort nach und nach verschwanden. Dennoch haben einige die Zeit überdauert. Außerhalb Berlins haben die Schlösser nur geringe Verbreitung gefunden. Schweiger schätzt, dass es in Berlin noch 8000 bis 10.000 Durchsteckschlösser gibt. Zu Höchstzeiten hatte die Firma über 20.000 Adressen in ihrer Kartei.
Wer zu jener Zeit in einem West-Berliner Mietshaus wohnte, war also mit großer Wahrscheinlichkeit mit einem Durchsteckschloss konfrontiert – und musste ein gewisses Fingerspitzengefühl entwickeln. Denn zugegebenermaßen musste man es schon „raushaben“, auf welcher Einsteckposition der Schlüssel schließt und wie er durchgesteckt wird, um nicht allabendlich hilflos in der Türe rumzustochern. Betrunkene Heimkehrer dürften da oft geflucht haben, wenn sie nicht gleich ganz gescheitert sind. Um den Schlüssel am Bund sicher aufzubewahren und ihn dennoch ein- und aushaken zu können, – man kann ja schließlich nicht den ganzen Schlüsselbund durchs Schloss hindurchschieben – wurde übrigens eine spezielle Halterung erfunden.
Jens Sethmann
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MieterMagazin 11/05
Ein Berliner Original: das Schloss mit Zwang
Foto: Kerstin Zillmer
Symbol für die Stadt
Das Durchsteckschloss nach dem „System Schweiger“ wurde an so vielen Berliner Haustüren eingebaut, dass der außergewöhnliche Schlüssel zum Symbol für die Stadt wurde. So hat die Firma Kerfin, die sich auch heute noch im Besitz der Familie Schweiger befindet und auch dem Wedding als Firmensitz die Treue gehalten hat, einem Berliner „Buddy-Bären“ einen doppelbärtigen Schlüssel als typisches Zeichen in die Pfoten gedrückt. Und in den Kramkisten auf den Flohmärkten findet man manchmal ausgemusterte Originalschlüssel, auf deren Steg „Kerfin & Co. Berlin 65“ eingraviert ist. Souvenirjäger haben sie schon als Beute entdeckt.
js
27.11.2016