Kastendoppelfenster aus Holz gehören zum Berliner Altbau wie der Stuck, die Dielenfußböden und die hohen Räume. Doch während diese historischen Details eine hohe Wertschätzung genießen und auch in der Vermarktung eine beträchtliche Rolle spielen, landen die originalen Fenster aus der Gründerzeit immer noch allzu oft im Bauschuttcontainer. Obwohl viele Untersuchungen und Praxisbeispiele längst gezeigt haben, dass man auch über 100 Jahre alte Kastendoppelfenster zu vertretbaren Kosten so aufarbeiten kann, dass sie neuen Isolierglasfenstern in nichts nachstehen, reißen Eigentümer bei einer Hausmodernisierung die alten Fenster heraus und ersetzen sie durch profillose Kunststofffenster. Schätzungsweise eine Million Kastendoppelfenster gibt es noch in Berlin, aber es werden ständig weniger.
Keinem Eigentümer eines Gründerzeithauses würde heute noch einfallen, den originalen Stuck von der Fassade abzuschlagen. Bei den Fenstern sieht das leider anders aus. So manches Mietshaus wird durch Kunststofffenster verschandelt, die mit ihren klobigen, glatten Rahmungen nicht zur Fassadengliederung des Altbaus passen. Die ursprünglichen Kastendoppelfenster sind mit ihren feinprofilierten Holzrahmen perfekt auf das jeweilige Haus und den plastischen Außenstuck zugeschnitten. Die hintereinander gesetzten Fenster geben der Fassade eine Tiefe, wo ein Iso-Fenster einfach nur platt wirkt. Und auch für die Bewohner strahlen die alten Fenster mit ihren verzierten Messinggriffen einen besonderen Charme aus.
Eine natürliche Isolierschicht
Kastenfenster sind in ganz Mitteleuropa verbreitet und gelten seit mehr als 200 Jahren als bewährte Fensterkonstruktion. Ein Kastendoppelfenster besteht aus zwei hintereinander angeordneten Einfachfenstern, die durch ein Futter miteinander verbunden sind und eine Einheit bilden. Die beiden Flügel haben meist einen Abstand von 10 bis 15 Zentimetern. Der innere und der äußere Flügel können unabhängig voneinander geöffnet und geschlossen werden. Die Vorzüge wurden schon früh in der Fachwelt gerühmt. So schrieb Germano Wanderley in seinem „Handbuch der Baukonstruktionslehre“ von 1873: „Die Doppelfenster haben noch den großen Vortheil, daß sie Kälte, Luftzug sowie Wärme, Geräusch, Staub etc. fernhalten, denn vermöge derwischen den beiden Fenstern befindlichen abgeschlossenen Luft entsteht eine Isolirschicht, welche, gemeinsam mit der doppelten Glasfläche, die Luft, Gase und den Schall schlecht leitet.“
Man unterscheidet das Berliner Kastenfenster, bei dem beide Flügel nach innen aufschlagen, vom Hamburger Fenster, wo sich der innere Flügel nach innen und der äußere Flügel nach außen öffnet. Beim Berliner Fenster müssen die Außenflügel etwas kleiner als die Innenflügel sein, damit man alle Flügel vollständig öffnen kann. „Die zweckmäßigsten Constructionen der Doppelfenster wurden zuerst in Berlin gemacht und allgemein angewendet“, schrieb Wanderley. In dem mehrbändigen Werk „Berlin und seine Bauten“ von 1896 heißt es dazu: „So ist es in Berlin – im Gegensatz zu den westlichen Gegenden Deutschlands – fast durchweg Gebrauch, Doppelfenster anzuwenden. Selbst die billigen Miethshäuser machen hiervon nur in den Küchen und Kammern eine Ausnahme.“
Kastendoppelfenster sind meist handwerklich hochwertig hergestellte Bauteile aus beständigem Holz. Selbst wenn die Wartung lange vernachlässigt wurde, gibt es kaum Holzfenster, die so schadhaft sind, dass sie sich nicht mehr instandsetzen und in einen technisch und optisch einwandfreien Zustand bringen lassen.
Ein Austausch der Kastenfenster durch moderne Isolierglasfenster führt hingegen ohne weitere massive Eingriffe in den Baukörper oft zu bauphysikalischen Problemen. Zum Beispiel Schimmel: Bei einem Kastendoppelfenster ist die Scheibe des äußeren Flügels die kälteste Stelle, an der sich etwaige Feuchtigkeit aus der Innenraumluft niederschlägt. Setzt man stattdessen ein Isolierglasfenster ein, ohne gleichzeitig die Außenwand zu dämmen, wird die Wand an der Fensterlaibung zur kältesten Stelle, an der die Luftfeuchtigkeit kondensiert. Diese neuralgische Stelle ist dann sehr schimmelanfällig. Um den Befall zu vermeiden, müssen die Bewohner stark dagegen anheizen und ausgiebig lüften.
„Mit dem Kastenfenster lässt sich die Energieeinsparung leicht erreichen, und so manche Wärmebrücke gäbe es nicht zu beklagen, wenn das Kastenfenster noch erhalten geblieben oder neu entstanden wäre“, sagt der Berliner Tischlermeister Hans Timm, der sich mit seinem 1957 gegründeten Familienunternehmen seit Jahrzehnten für das Kastendoppelfenster stark macht. Mit Unterstützung der Senatsverwaltung für Wirtschaft hat Timm im Jahr 2000 einen Forschungsauftrag zum Thema „Runderneuerung von Kastenfenstern“ durchgeführt und einen Leitfaden für die Sanierung solcher Fenster entwickelt. Bei der Runderneuerung arbeiten mehrere Gewerke Hand in Hand. Der Tischler überarbeitet die Holzkonstruktion, ersetzt beschädigte Bauteile und fräst Dichtungen ein, der Glaser setzt neue Scheiben ein, der Maler entfernt vor der Neulackierung alle alten Lackschichten und der Klempner fügt die Blechabdeckungen an den Wandanschlüssen ein. Zur Verbesserung der Isolierung erhält zumindest der Innenflügel eine Wärmeschutzverglasung. Er wird zudem gegen Zugluft abgedichtet, während am Außenflügel ein ganz leichter Luftaustausch möglich bleibt. Dadurch wird Tauwasser im Fensterzwischenraum vermieden.
Ein Kastendoppelfenster, das auf diese Weise aufgearbeitet wurde, ist energetisch hochwertig. Der Wärmeverlust reduziert sich erheblich: Der Wärmedurchgangskoeffizient, der sogenannte U-Wert in der Einheit Watt pro Quadratmeter und Kelvin (W/m²K), lässt sich von 2,5 bis 3,0 bei alten Kastenfenstern auf 1,5 bis 0,9 absenken. Zum Vergleich: Herkömmliche Isolierglasfenster haben einen U-Wert zwischen 1,2 und 1,5.
Es wird auch ein guter Schallschutz erreicht. Ein runderneuertes Kastendoppelfenster reduziert Geräusche um 35 bis 40 Dezibel. Die üblichen Iso-Fenster dämmen den Schall um 30 bis 35 Dezibel. Alte Kastenfenster lassen sich sogar zu normgerechten Schallschutzfenstern umbauen. Gerade der große Abstand zwischen den Scheiben ist dafür sehr vorteilhaft. Das Förderprogramm für Schallschutzfenster kann man deshalb nicht nur für neue Fenster in Anspruch nehmen, sondern auch für die Ertüchtigung vorhandener Kastenfenster.
Positive Energiebilanz bei der Herstellung
Die Erneuerung von Kastendoppelfenstern ist meist, aber nicht immer, etwas teurer als ein neues Kunststofffenster von der Stange. Gegen Kunststofffenster spricht aber der etwa doppelt so hohe Energieaufwand bei der Herstellung, bei Aluminiumfenstern ist er sogar sieben Mal höher als bei Holzfenstern. Und ob ein Fenster aus Kunststoff ebenfalls über 100 Jahre hält, muss sich erst noch zeigen.
Jens Sethmann
Fenstersprossen zur Gesichtspflege
Die Aufteilung der Fensterfläche durch Sprossen hatte ursprünglich Kostengründe: Kleine Scheiben in Holz- oder Bleifassungen waren billiger und leichter herzustellen. Trotz Fortschritten in der Glasproduktion wurde die Sprossenteilung noch lange als Schmuckelement beibehalten. Die Maße wurden mit der gesamten Fassadengestaltung abgestimmt. Wenn heute die alten Fenster ersetzt werden, ohne diese Proportionen zu berücksichtigen, kann es passieren, dass das ganze Haus sein Gesicht verliert und die Fassade tot wirkt. Bei einer Isolierverglasung sind kleinformatige Sprossenteilungen nicht mehr in der alten Form möglich, weil das Isolierglas erheblich breitere Falze erfordert. „Unechte“ Sprossen, die zwischen die Scheiben gelegt werden, imitieren zwar eine historische Teilung und erleichtern das Fensterputzen. Durch die fehlende plastische Wirkung wirkt die „Sprosse in Aspik“ aber nur wie ein billiger Abklatsch des alten Erscheinungsbildes.
js
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22.12.2018