„Diese grünumrankten, blumengeschmückten Ausbauten geben unserem einförmigen Straßenbilde einen liebenswürdigen Zug, und wenn einem Berliner die Wahl gelassen wird zwischen einer Wohnung mit und ohne Balkon, zieht er unbedingt die erste vor, mag sie auch sonst recht viele Mängel aufweisen. Der Balkon ersetzt ihm vieles. Er dient abwechselnd als Kinderzimmer, Speisekammer, Gartenrestaurant, Studierstube und Sommerfrische. Er begreift oft alles in sich, was der Großstädter vom Umgang mit der Natur in sein tägliches Leben einbeziehen kann.“ Im Jahre 1904, als dieser Zeitungsartikel erschien, galt Berlin als Balkonhauptstadt Europas. Die besondere Liebe der Hauptstädter zu dem Fassadenvorsprung hat bis heute nicht nachgelassen. Der Balkon ist einfach Kult – wohl dem, der einen hat.
Der Freisitz ist auch im 21. Jahrhundert heiß begehrt, quer durch alle Altersgruppen und Lebensstile. Was kann man mit diesen paar Quadratmetern nicht alles machen? Kräuter anbauen, ein Planschbecken für die Kinder aufstellen, Parties feiern, rauchen – oder einfach nur Wäsche trocknen. Natürlich gibt es auch Zeitgenossen, die hier lediglich ihr Fahrrad parken oder Gerümpel deponieren. Doch für viele Berliner ist der Austritt ins Freie von unschätzbarem Wert, ein grünes Wohnzimmer, in dem man vom Großstadtstress abschalten kann.
„Mein Wunsch war immer, eine Wohnung mit Balkon zu haben, wenn ich mal alt bin“, erzählt Hanna Jakschik und blickt stolz auf die bunte Blütenpracht nebst solarbetriebenem Wasserspiel und Lichterketten. Seit sie vor 16 Jahren in die Neuköllner High-Deck-Siedlung gezogen ist, nennt sie einen großen Balkon ihr Eigen, fast schon eine Terrasse. Liebevoll arrangiert die 82-Jährige Jahr für Jahr duftende Fresien, rankende Rosen und Stiefmütterchen in verschiedenen Farben. Neben dem Tisch steht ein Trompetenbäumchen, und Platz für ein paar Töpfe mit Kräutern und Mini-Tomaten gibt es auch noch.
Doch Hanna Jakschiks ganze Liebe gehört den Blumen. „Ich freue mich jeden Tag an ihnen und liebe ungewöhnliche Farben und Sorten.“ Klar, das macht auch viel Arbeit. Gießen, alles sauber halten, die vertrockneten Blätter und Blüten abschneiden – „von Nichts kommt Nichts“, weiß die Hobbygärtnerin, die von den Nachbarskindern „Blumen-Omi“ getauft wurde. Wenn sie mal verreist, muss die Tochter einspringen. Doch die Mühe lohnt sich. Im Sommer ist der Balkon ein zusätzliches Zimmer. Hier sitzt sie oft mit Familie oder Freunden beim Kaffeetrinken, liest in der Morgensonne ein Buch und beobachtet die Vögel. Schon mehrmals hat sie beim Balkonwettbewerb in der Siedlung Preise gewonnen. Eine Wohnung ohne Balkon – „Nee, das könnte ich mir nicht mehr vorstellen.“
Spaß auch ohne Tisch und Stuhl
Zur Fraktion der Blumenliebhaber gehört auch Manfred Kasper aus der Kreuzberger Düttmann-Siedlung. Auf seinem Südbalkon gedeihen solche Klassiker wie Petunien und Geranien, aber auch Hibiskus und Weihnachtsstern. Sein ganzer Stolz ist ein selbst gezogener Oleander, den er aus Spanien mitgebracht hat. Manfred Kasper kann aus wenig viel machen. Ab und zu ein Einkauf im Blumenmarkt muss zwar sein, aber ansonsten weiß er sich zu helfen. In jedem Frühjahr holt er die in Mülltüten vorgezogenen Pflanzen vom Vorjahr aus dem Keller, und die Rankstäbe, mit denen er die Pflanzen stützt, gehörten mal zu Feuerwerkskörpern. Alljährlich nach der Silvesternacht sammelt er sie im Hof ein. Aufhalten will sich Manfred Kasper aber nicht auf seinem Balkon. „Wäre es ruhiger, würde ich mir schon Tisch und Stühle hinstellen“, sagt der Mieter, der hier seit 28 Jahren wohnt. Dabei wirkt die Siedlung im Blockinnenbereich fast dörflich. Vom Verkehrslärm der Urbanstraße hört man nichts. Dafür nerve das Bolzen und Fußballspielen der Kinder im Hof, findet Kasper: „Ich bin sehr glücklich mit meinem Balkon, aber einfach mal gemütlich draußen sitzen – dafür ist es mir zu laut.“ Sein Nachbar von gegenüber sieht das anders. Mit Freunden draußen sitzen, grillen oder mit der Tochter spielen – das ist für den Familienvater ein Stück Lebensqualität. Vor allem im Sommer wird das ausgiebig genutzt.
In der Düttmann-Siedlung, eine Anlage des Sozialen Wohnungsbaus aus den 1980er Jahren, verfügen alle Wohnungen über einen Balkon oder einen Mietergarten. Doch offensichtlich werden nicht alle genutzt. Auf einigen steht Sperrmüll, andere sind komplett verwaist. Um die Mieter anzuspornen, veranstalten das Quartiersmanagement und der Nachbarschaftstreff alljährlich einen Balkonwettbewerb unter dem Motto „Wir bringen Nachbarschaft zum Blühen.“ Dabei werden auch kostenlos Samentüten verteilt. Die Hausverwaltung lege großen Wert darauf, dass die Grünflächen gepflegt sind und sich die Balkone schön präsentieren, berichtet die Gärtnerin der Siedlung, Bettina Heimweg. Und wie ist das Phänomen der Balkonverächter zu erklären? Die Gärtnerin glaubt, dass kulturelle Besonderheiten der Grund sind: „Im Orient sind Balkone wegen der Hitze nicht so verbreitet, zudem setzt man sich vielleicht nicht so gerne den Blicken der Nachbarn aus.“ Aber natürlich könne man das nicht verallgemeinern, betont Heimweg und verweist auf den üppigen Blumenbalkon einer Mieterin türkischer Herkunft.
Die meisten Balkonnutzer wünschen sich einen nicht einsehbaren Balkon. Wer will sich beim Frühstücken im Pyjama oder beim Sonnenbaden im Bikini schon gern auf den Präsentierteller begeben? Doch der städtische Balkon ist nun mal ein Zwischenbereich, halb privat und halb öffentlich. Er gehört zur Wohnung, ist aber auch ein draußen gelegener Freiraum. Er ist Fenster zur Außenwelt und Rückzugsort in einem. Man kann von ihm aus das Treiben auf der Straße oder im Hof beobachten und gleichzeitig ungestört bleiben, sozusagen Ausblicke ohne allzu intime Einblicke – jedenfalls im Idealfall. Je nachdem wie die Balkone gebaut sind, ob sie an der Straße liegen oder nur eine Armlänge vom Nachbarbalkon entfernt sind, bieten sie mehr oder weniger Privatsphäre.
Heimischer Demonstrationsort
Gerade weil er nach außen wirkt, eignet sich der Freisitz zudem bestens als Bühne. Wer kennt sie nicht, all die Bekenntnisse und Botschaften, die viele Balkonbesitzer der Öffentlichkeit kundtun. Spruchbänder mit „Spreeufer für alle“, Anti-Atom-Plakate oder Protest gegen die Autobahn – die Hausfassade ist eine beliebte Plattform für politische Meinungsäußerungen. Natürlich gibt es auch kaum einen besseren Ort für den sichtbaren Protest gegen Mieterverdrängung, Spekulation und Vermieterwillkür. „Philosophiebalkon“ nennt Stefanie Heinrich diesen Typus. Die Studentin der Europäischen Ethnologie hat ausgiebige Feldforschung in Sachen Berliner Balkonkultur unternommen. Beim Philosophiebalkon gehe es um die Bekanntgabe von Lebensansichten. Neben eindeutig politischen Botschaften können das auch eher sinnfreie Sprüche wie „Fickt euch einfach alle!“ sein.
Ein weiterer Typus, der in den vergangenen Wochen wieder überall zu beobachten war: der Flaggenbalkon. Ob Schwarz-Rot-Gold oder die Fahne vom Lieblingsfußballverein – der Fahnenfan will nach außen zeigen, für welche Mannschaft sein Herz schlägt. Andere verwenden viel Mühe und Zeit auf die individuelle Gestaltung. Weihnachtsmänner und Osterschmuck, Klangspiele und Windrädchen, Gartenzwerge und Plastikfiguren – die Deko hängt ganz von Geschmack und Jahreszeit ab. Der Typus Schmuckbalkon, wie ihn die Ethnologin nennt, soll vor allem Passanten und Nachbarn beeindrucken. Je auffälliger, desto besser.
Ebenfalls beliebt: der Haustierbalkon. Die Katze freut sich über ein gesichertes Freiluftgehege, mag es noch so klein sein. Einige hängen auch Vogelkäfige an die frische Luft oder haben für Meerschweinchen oder Zwergkaninchen ein Plätzchen im Freien eingerichtet.
Der politische Balkon, wie man den Philosophiebalkon auch bezeichnen könnte, hat übrigens eine lange Tradition. Die ersten Berliner Balkone um 1700 waren zwar in erster Linie schmückendes Beiwerk an der Fassade von Schlössern. Doch sie wurden von den Herrschenden auch gern als Plattform für öffentliche Auftritte und Huldigungen genutzt. Hier wurden Revolutionen ausgerufen, Kriegsreden gehalten und Königskinder präsentiert – letzteres wird heute noch gerne praktiziert.
Vom Zier- zum Nutzbalkon
Im privaten Wohnbereich setzten sich Balkone und Loggien erst im 19. Jahrhundert durch, zunächst in den vornehmen Villen des Adels. Allerdings wäre damals niemand auf die Idee gekommen, sich mit Kaffee und Kuchen auf dem Balkon niederzulassen. Auch Blumenkästen waren unbekannt. Balkone waren in erster Linie Zierde des Hauses. Sie wurden allenfalls genutzt, um das städtische Leben verstohlen zu beobachten oder – wie bei den Sommerwohnungen am Tiergarten – die schöne Aussicht zu bewundern. Das änderte sich erst nach der Reichsgründung 1871, als immer mehr großbürgerliche Wohnhäuser mit Balkonen am Vorderhaus ausgestattet wurden. „Die Mietwohnung mit Balkon entschädigte für einen Traum, der in der Stadt nicht mehr zu verwirklichen war“, schreiben Susann Hellemann und Lothar Binger in ihrem Buch „Von Balkon zu Balkon“ (unser Buchtipp unten). Die sich ab 1890 herausbildende Balkonkultur hatte ihre Wurzeln in der Natursehnsucht der aus den ländlichen Gegenden zugewanderten Neuberliner. Der Balkon wurde zum Garten-Ersatz, wo man Erdbeeren und Bohnen anbaute – und manchmal sogar Hühner und Karnickel hielt.
Manch Wohnungssuchender machte sich lustig über die „neuzeitliche Luxuseinrichtung“. So auch ein Schriftsteller um 1872: „Der Balkon ist der Stolz der Berliner Hausbesitzer. Vor einem Fenster, das zugleich als Thüre dient, hängt ein eiserner Korb, für einen spindeldürren Schneiderlehrling gerade groß genug, ein wahrer Staub- und Windfang. Aber es ist doch ein Balkon. Man bezahlt ihn mit 50 Thalern jährlichem Mietszuschlag und betritt ihn nur bei Besichtigung der Wohnung, oder wenn Fremde kommen, sonst aber nie wieder.“
Doch die Berliner, die erst ab den 1890er Jahren zunehmend in den Genuss einer Wohnung mit Balkon kamen, waren angetan von dem verspotteten „Staub- und Windfang“. Als grünes Wohnzimmer erfreute er sich schon bald einer vielfältigen Nutzung. Inmitten der Betonwüste konnte man hier Licht und Luft tanken, Wäsche trocknen, Damenkränzchen abhalten oder Obstbäumchen pflanzen. Zwar gab es mitunter Kritik an den „kunterbunten Flickereien der bepflanzen Loggien“. Einige Hausbesitzer schrieben sogar per Klausel im Mietvertrag die Art der Bepflanzung vor. Doch die Stadtoberen erkannten zunehmend, dass die Blumenpracht zur Verschönerung des Stadtbildes beitrug. Sogar Balkonwettbewerbe wurden damals schon ausgerichtet. Die Balkonbegeisterung der Berliner war ohnehin nicht mehr zu bremsen. Um die Jahrhundertwende war Berlin die Balkonhauptstadt Europas – während es beispielsweise in Paris noch so gut wie keinen Blumenschmuck an den Häusern gab.
Zurück ins 21. Jahrhundert. Der Austritt ins Freie ist beliebt wie eh und je und wird vielfältig genutzt – allerdings nur, wenn es sich nicht um einen Alibi-Balkon handelt, der lediglich die Miete in die Höhe treibt.
Kein Neubau ohne Hochsitz
Nach einer Studie des Internetportals Immowelt.de verfügen 57 Prozent der Deutschen über einen Balkon. 85 Prozent von ihnen nutzen ihn auch regelmäßig. Der Rest gab an, der Balkon sei zu klein, zu schattig oder die Aussicht, beispielsweise auf eine vielbefahrene Straße, sei wenig verlockend.
Bei den Investoren und Hausbesitzern spielt die Aufenthaltsqualität des Balkons keine Rolle. Kein Neubau ohne den Freisitz, ganz egal wie unsinnig er ist. Beispiele dafür kann man an der Mühlenstraße in Friedrichshain sehen, wo Balkone teilweise direkt auf die vierspurige Fahrbahn ragen. Wer soll sich hier aufhalten oder auch nur Wäsche trocknen? Aber eine Wohnung ohne Balkon gilt eben mittlerweile als unvermietbar, vor allem im hochpreisigen Segment. Auch im Bestand werden immer mehr Wohnungen nachträglich mit Balkonen ausgerüstet. Das freut viele Mieter, auch wenn die Wohnung dadurch teurer wird.
Für Steffi G., die vor einem halben Jahr auf Wohnungssuche war, hatte der Balkon keine Priorität. „Man hat ja heutzutage nicht mehr die Wahl und muss froh sein, überhaupt etwas Bezahlbares zu finden“, sagt sie. Doch mittlerweile ist sie begeisterte Balkonnutzerin. Essen, am Laptop arbeiten, lesen, mit Freunden zusammensitzen – fast alles spielt sich in den Sommermonaten auf dem wind- und regengeschützten Südbalkon ab. „Für mich ist er eine Ruheoase, ein Ort der Erholung, wo ich durchatmen kann von der Stadt.“ Um Naturidylle geht es der jungen Frau dabei weniger, auch wenn sie ein paar Kräuter und Sommerblumen gepflanzt hat. „Ich finde es gerade schön, dass ich von hier aus beobachten kann, wieviel Leben sich im Hinterhof abspielt.“
Man sieht: Der Balkon kann so vieles sein, je nach Vorstellung und Bedürfnissen. Und wer so gar keine Lust auf Gärtnern und Entspannen hat, genießt vielleicht die schöne Aussicht. Am besten natürlich vom 10. Stock eines Hochhauses aus. Der Blick über die Stadt, der Himmel zum Greifen nah – ein Stück Freiheit.
Birgit Leiß
Sonnenschirm, Deutschlandfahne, Cannabis – was geht und was nicht
Bei der Nutzung und Gestaltung des Balkons sind einige Einschränkungen zu beachten. Weil der Balkon zur Fassade gehört, hat der Vermieter bei Veränderungen, die das optische Erscheinungsbild betreffen, ein Wörtchen mitzureden. Zwar darf man ohne Erlaubnis Sonnenschirme oder Wäscheständer aufstellen. Auch bei der Art der Bepflanzung hat man freie Hand – zumindest solange es sich nicht um Cannabis handelt. Doch schon beim Anbringen von Flaggen oder Katzennetzen wird es kritisch. Die Rechtsprechung ist hier widersprüchlich, zudem kommt es darauf an, was im Mietvertrag und in der Hausordnung steht.
Welche Nutzungen erlaubt sind und welche Einschränkungen unterliegen, stellt ausführlich das MieterMagazin-Spezial in dieser Ausgabe dar (Seite 26: „Die Gebrauchsrechte und -pflichten im Mietverhältnis: Vom Dürfen und Müssen“). Das Thema „Grillen“ behandelt unser Beitrag „Grillen in der Stadt: Eine delikate Angelegenheit“ auf Seite 24.
Ein häufiger Streitpunkt zwischen Mieter und Vermieter: Transparente und Protestplakate. Während Deutschlandfahnen von fast allen Vermietern toleriert werden, sollte man Beschimpfungen wie „Spekulantenschwein“ unterlassen – hier droht unter Umständen die Kündigung. Die Formulierung „Wir lassen uns nicht luxussanieren“ im Falle der berühmt-berüchtigten Calvinstraße sahen die Richter dagegen durch die Meinungsfreiheit gedeckt (LG Berlin vom 12. Juni 2014 – 67 S 125/14).
Lange Zeit galt, dass Mieter regelmäßig das Abflusssieb reinigen müssen, um Verstopfungen vorzubeugen. Doch nach einem neuen Urteil des Landgerichts muss der Abfluss so konstruiert sein, dass er wartungsfrei funktioniert. Der Mieter ist auch nicht verpflichtet, den Balkonabfluss aufzutauen und von Schnee zu befreien (LG Berlin vom 8. März 2016 – 63 S 213/15).
Gegen den nachträglichen Anbau eines Balkons kann man sich meist nicht wehren. Das gilt als Modernisierung und ist grundsätzlich zu dulden. Im Einzelfall, etwa wenn er an einer lauten Straße gebaut werden soll, kann man als Mieter aber Einwände vorbringen. Vor Gericht wird dann abgewogen, ob eine Wohnwertverbesserung vorliegt oder nicht. Meist wird jedoch argumentiert: „Ein lauter Balkon ist besser als gar keiner.“
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Susann Hellemann, Lothar Binger: Von Balkon zu Balkon. Berliner Balkongeschichte(n), Nishen-Verlag, Berlin 1988 (nur noch antiquarisch erhältlich)
Feldforschungstagebuch von Stefanie Heinrich:
28.12.2016